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Keine Liebe am Amur

Stephan Hille5. Juli 2005

So sollte eine Nachbarschaft aussehen: Russland und China begraben alten Streit, die beiden Staatschefs basteln sogar an einer gemeinsamen Weltordnung. Nur am Grenzfluss stimmt das Kräfteverhältnis noch nicht.

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Das bilaterale Verhältnis zwischen Moskau und Peking ist so gut wie nie zuvor. Allerdings: Am Grenzfluss Amur stehen sich zwei ungleiche Nachbarn gegenüber. Knapp acht Millionen Russen leben im dünn besiedelten russischen Fernen Osten, in den angrenzenden Provinzen Chinas leben hingegen rund 100 Millionen Chinesen. Auf den Märkten in den russischen Städten dominieren schon jetzt chinesische Händler das Bild. Jährlich wandern rund 150.000 Chinesen nach Sibirien ein, viele nehmen sich eine russische Frau. Unter den Russen macht sich die Angst vor Überfremdung breit.

Stephan Hille

Wie groß der Kontrast ist, zeigt sich besonders gut in Blagoweschensk am Amur. Die russische Grenzstadt mit klangvollem Namen "Stadt der Verkündung" und ihren rund 200.000 Einwohnern macht einen etwas verschlafenen Eindruck. Ein ganz anderes Bild zeigt sich auf der anderen Seite des Amur: Dort ist innerhalb von zehn Jahren fast explosionsartig aus dem Grenzort Heihe eine pulsierende Handelsstadt gewachsen. Gibt es in Blagoweschensk nur wenige Bauten mit mehr als fünf Stockwerken, so präsentiert sich auf der anderen Flussseite eine imposante Skyline mit modernen Geschäftshochhäusern.

Kapitalistische Kommunisten

Erstaunlich nur, dass auf der russischen Seite viel weniger kapitalistische Dynamik zu spüren ist, immerhin hat Russland sich viel drastischer von Planwirtschaft und Kommunismus verabschiedet als der Nachbar. Die Stimmung unter den Russen ist eher deprimiert. "China hat Zukunft, wir haben keine", sagt der Matrose auf dem kleinen Ausflugsschiff, das über den Amur schippert. Auf der chinesischen Seite wird die Fracht der russischen Schiffe gelöscht. Gewaltige Mengen an Holz lagern im Hafen von Heihe. "Aus unserem sibirischen Holz machen die Chinesen teure Möbel, warum machen wir das nicht selbst?", fragt der russische Matrose.

Seit 1992 ist die Grenze offen für gegenseitige Besuche. Visumsfrei können die Bewohner beider Städte auf die andere Seite des Amur reisen. Offiziell gilt diese Möglichkeit des Grenzübertrittes nur für Touristengruppen. Russische "Reisebüros" machen daher ein gutes Geschäft, indem sie die vielen russischen Kleinhändler direkt am Fähranleger von Blagoweschensk gegen eine Gebühr in fiktive Reisegruppen einteilen und zügig durch die Pass- und Zollkontrolle schleusen.

Akademiker als Last-Esel

Die Fähre braucht nur wenige Minuten und bringt die Passagiere in eine andere Welt. In Heihe warten ein neues Terminal zur raschen Abfertigung der "Touristen" und direkt dahinter ein modernes Handelszentrum. Im Angebot: Alles was weh tut, Totschläger, Schlagringe und Elektroschocker. Ferner eine grenzenlose Auswahl an Kitschgegenständen, chinesischen Heil- und Potenzmittelchen aber auch Kleidung von Unterhose bis zum Pelzmantel. Die deutschen Markensportartikel sind sensationell billig und fast echt.

Auf den ersten Metern stürzen sich chinesische Taxifahrer und Händler auf die frisch eingereisten "Touristen", um ihre verschiedensten Dienstleistungen und Freundschaft anzubieten. Der Name Sascha ist überraschend weit verbreitet. "Darf ich mich vorstellen, ich heiße Sascha", lautet die Standardformel. Doch davon lassen sich die Russen nicht beeindrucken, die paar Stunden bis zur Rückfahrt nutzen sie, um schnell und billig einzukaufen.

Auf der Rückfahrt wird es eng. Berge von schweren Plastiktaschen stapeln sich. Die Russen dürfen 50 Kilogramm Waren zollfrei einführen. Diese Regelung hat ein offenbar lukratives Geschäft in Gang gebracht: Chinesische Händler übergeben ihre Ware den russischen "Touristen". Hinter dem russischen Zoll nehmen wiederum chinesische Händler die eingeführte Ware entgegen. Für die chinesischen Händler den Arbeitskuli zu spielen, ist den meisten Russen unangenehm. 250 Rubel (umgerechnet 7,5 Euro) bekommen sie für einen Lastengang. "Was soll ich machen?", fragt der etwa 50-jährige stämmige Mann. "Ich bin Hochschullehrer, aber mein Gehalt reicht hinten und vorne nicht aus."