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Klare Entscheidung für Neuwahlen

25. August 2005

Das Bundesverfassungsgericht hat den Weg für Neuwahlen am 18. September frei gemacht. Die Entscheidung von Bundespräsident Köhler zur Auflösung des Bundestages war rechtmäßig. Politiker zeigten sich zufrieden.

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Der Weg für die Wahlen am 18. September ist freiBild: dpa

Das oberste deutsche Gericht wies am Donnerstag (25.8.05) die Klagen der Bundestagsabgeordneten Werner Schulz (Grüne) und Jelena Hoffmann (SPD) gegen die vorzeitige Auflösung des Bundestags und die Ansetzung von Neu-Wahlen zurück.

Bundesverfassungsgericht Die Bundestagsabgeordneten und Kläger Jelena Hoffmann, SPD, links, und Werner Schulz, Grüne
Die Bundestagsabgeordneten und Kläger Jelena Hoffmann, SPD, links, und Werner Schulz, Grüne, stehen vor dem Bundesverfassungsgericht, am Dienstag, 9. August 2005.Bild: AP

Sieben gegen eine Stimmen

Die Entscheidung von Bundespräsident Horst Köhler, das Parlament auf Bitten von Kanzler Gerhard Schröder aufzulösen, sei rechtmäßig gewesen, begründete das Gericht sein Urteil. Das Bundesverfassungsgericht habe sich mit sieben gegen eine Stimmen für eine Bundestagsneuwahl entschieden, sagte der Vizepräsident Winfried Hassemer. Damit wird zum vierten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik vorzeitig ein neuer Bundestag gewählt.

Der Vorsitzende Richter des Zweiten Senats, Winfried Hassemer, sagte, die Entscheidung von Bundespräsident Horst Köhler, das Parlament auf Bitten von Kanzler Gerhard Schröder aufzulösen, sei mit dem Grundgesetz vereinbar gewesen. Ein dem Zweck des Grundgesetz-Artikels 68 widersprechender Gebrauch der Vertrauensfrage lasse sich nicht feststellen. Der von Bundeskanzler Schröder abgegebenen Einschätzung, er könne bei den bestehenden Kräfteverhältnissen im Bundestag künftig keine vom Vertrauen der Parlamentsmehrheit getragene Politik mehr verfolgen, sei "keine andere Einschätzung eindeutig vorzuziehen".

Weder Pest noch Cholera


In einer persönlichen Bemerkung vor der Urteilsbegründung meinte Hassemer, die Presse habe die Entscheidungsfindung mit der Bemerkung begleitet, das Gericht habe die Wahl zwischen Pest und Cholera. Die Pest sei, eine Staatskrise hervorzurufen, indem es den Wahlkampf stoppe, die Cholera sei, das Grundgesetz so hinzubiegen, dass eine Krise verhindert werde. Er habe diesen Gedanken zunächst auch gehegt, sagte Hassemer. "Dieser Gedanke ist mir im Laufe des Verfahrens jedoch gründlich abhanden gekommen."

Bundesverfassungsrichter, Vorsitzender des Senats und Vizepräsident des BVG, Winfried Hassemer
Verkündete das Urteil: Bundesverfassungsrichter Winfried HassemerBild: dpa

Das Verfassungsgericht folge seiner Entscheidung zur Vertrauensfrage der Kohl-Regierung von 1983 nicht sklavisch, aber ändere sie auch nicht fundamental. "Wir formulieren selbstbewusster, nicht nur im Sprachgebrauch, sondern auch in der Konstruktion", sagte Hassemer.

Die Richter des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgericht, Gertrude Luebbe-Wolff, Siegfried Bross, Udo Di Fabio, Winfried Hassemer, Hans-Joachim Jentsch, Rudolf Mellinghoff und Michael Gerhardt, vo
Die Richter des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgericht, Gertrude Luebbe-Wolff, Siegfried Bross, Udo Di Fabio, Winfried Hassemer, Hans-Joachim Jentsch, Rudolf Mellinghoff und Michael GerhardtBild: AP

Die schriftliche Begründung des Urteils liegt der Öffentlichkeit noch nicht vor, da die Richter mit ihrer Verkündung nicht auf die Druckerei warten wollten, wie Hassemer ausführte. Innerhalb der nächsten Tage werde diese jedoch nachgereicht.

"Sehr nahe" am Selbstauflösungsrecht

Mit deutlichen Worten hat sich Verfassungsrichter Hans-Joachim Jentsch gegen die Zulassung der Neuwahl gewandt. Die Auffassung der Senatsmehrheit schwäche die Stellung des Bundestags, meint Jentsch, der gegen das Votum der Mehrheit stimmte. Den Gründen, die der Bundeskanzler bei der Stellung der Vertrauensfrage vorgetragen habe, lasse sich die von ihm behauptete politische Handlungsunfähigkeit nicht entnehmen, sagte Jentsch bei der Urteilsverkündung.

Jentsch warf seinen Senatskollegen vor, von der Grundsatzentscheidung des Gerichts von 1983 abzuweichen. Gestehe man dem Kanzler einen derart weiten Einschätzungsspielraum zu, dann komme dies einem parlamentarischen Selbstauflösungsrecht "sehr nahe", das im Grundgesetz nicht vorgesehen sei.

Köhler: "Gründlich lesen"

Bundespräsident Horst Köhler hat nach dem Urteil zur Beteiligung an der Wahl und einem sorgsamen Umgang mit dem Wahlrecht aufgerufen. Das Urteil selbst wollte Köhler noch nicht kommentieren. "Wir werden ganz gründlich lesen, was das Bundesverfassungsgericht dazu weiter sagt", sagte er nur.

Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) sieht sich durch das Urteil "uneingeschränkt bestätigt". Schröder sagte am Donnerstag in Berlin: "Es geht mir um die Bestätigung meiner Reformpolitik." Deutschland brauche die Erneuerung nach Innen und die selbstbewusste Positionierung nach Außen. Das Gericht hatte Klagen gegen die Wahl abgewiesen und Schröders Einschätzung, dass er keine verlässliche Mehrheit für seine Reformen habe, plausibel genannt.

"Jetzt abgehakt"

Der bayerische Ministerpräsident und CSU-Chef Edmund Stoiber hat die Entscheidung erleichtert aufgenommen. Er begrüße das Votum außerordentlich, sagte Stoiber. "Damit ist nun Gott sei Dank der Weg frei für den notwendigen Wechsel in Deutschland."

Der SPD-Innenpolitiker Dieter Wiefelspütz erklärte, das Urteil werde auch über den Tag hinaus bedeutsam und wichtig sein. Das Gericht habe eine Entscheidung getroffen, die sich in Übereinstimmung mit der überwiegender Mehrheit von Politik und der Bevölkerung befinde.

Wolfgang Bosbach von der CDU sagte, das Mehrheitsvotum der Karlsruher Richter diene der "Wiederherstellung des Rechtsfriedens". Ohne diese Mehrheit hätte es weitere Debatten gegeben. "Jetzt ist dieses Thema abgehakt."

"Neue Akzente"

Nach Meinung des früheren Verfassungsgerichtspräsidenten Ernst Benda setzt das Urteil neue Akzente. Das Gericht benutze den Begriff einer "auflösungsgerichteten Vertrauensfrage". Es gebe damit künftig eine unechte Vertrauensfrage, deren Ziel es nicht mehr sei, die Mehrheit zu stabilisieren, sondern eine Bundestagsneuwahl herbeizuführen, sagte Benda in der ARD.

Bislang wurde drei Mal vorzeitig in der Bundesrepublik ein neuer Bundestag gewählt. Willy Brandt (SPD) und Helmut Kohl (CDU) erreichten 1972 beziehungsweise 1983 vorgezogene Wahlen. 1990 wurde die Bundestagswahl wegen der deutschen Einheit vorgezogen. (sams)