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Klare Verhältnisse in Ankara

Baha Güngör 12. März 2003

Mit der Ernennung zum Regierungschef durch Präsident Ahmed Secer hat der neue türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan planmäßig die Macht erobert - und das ganz demokratisch. Baha Güngör kommentiert:

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Die 58. Regierung der Türkei seit 1923 ist Vergangenheit. Sie hatte seit ihrer Bildung am 18. November vergangenen Jahres ohnehin nur statistischen Wert. Bei den Wahlen am 3. November war nämlich die reformistisch-islamistische AKP (Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei) nach einem Erdrutschsieg zur stärksten politischen Kraft geworden. Auf ihren Parteichef Recep Tayyip Erdogan im Plenum der Grossen Nationalversammlung musste die AKP zunächst aber verzichten. Damit blieb auch dem 49-jährigen Ex-Fußballprofi der Aufstieg ins höchste Regierungsamt vorerst versagt. Sein Weggefährte Abdullah Gül übernahm als Statthalter die Regierungsführung, um jetzt dem ins Parlament gewählten Erdogan wie vereinbart Platz zu machen.

Fliegender Wechsel

Mit dem fliegenden Wechsel und dem Auftrag zur Bildung der 59. Regierung an Erdogan herrschen klare Verhältnisse in Ankara. An Erdogans demokratischer Legitimation als Ministerpräsident gibt es keine Zweifel, schließlich verfügt die AKP über 365 der 550 Mandate. Ihr stehen als einziger ernsthafter Opposition die Sozialdemokraten mit 177 Abgeordneten gegenüber.

Dass Erdogan wegen Vergehen gegen diverse Staatsschutzparagraphen von den Wahlen ausgeschlossen worden war, um dann diese Berechtigung nachträglich zu erhalten, ist kein Thema mehr. Wo ein Wille ist, ist in der Türkei immer ein Weg, in irgendeiner von 81 Provinzen wegen irgendwelcher Unregelmäßigkeiten ein Wahlergebnis für ungültig zu erklären und die Wähler erneut zu den Urnen zu rufen. Im aktuellen Fall gibt es aber an der demokratischen Korrektheit des Verfahrens nichts zu bemängeln. Die drei zu vergebenden Sitze in der Provinz Siirt wurden von Erdogan und zwei weiteren AKP-Kandidaten mit haushohem Abstand vor der Konkurrenz erobert.

Warten auf Finanzspritzen

Erdogan hat jetzt die Macht auch im Parlament. Von nun an ist er für jede Entscheidung der Volksvertreter direkt verantwortlich. So kann er jetzt versuchen, jenen Regierungsentwurf ohne Mühen durchs Parlament zu boxen, mit dem sowohl der Entsendung türkischer Soldaten im Kriegsfall ins Ausland als auch der Stationierung amerikanischer Truppen samt schwerem Kriegsgerät mit dem Ziel eines Angriffs von türkischem Territorium aus auf das Nachbarland Irak stattgegeben werden soll. Im ersten Anlauf scheiterte die Regierungsvorlage knapp und wurde im Plenum abgelehnt.

Weil Erdogan weiß, dass im Falle einer erneuten Ablehnung großzügige Finanzspritzen aus den USA ausbleiben werden, wird er kein Risiko eingehen und seine Abgeordneten per Fraktionszwang verpflichten. Es geht schließlich auch um entscheidende Interessen der Türkei im Nordirak, wo ein kurdischer Staat mit allen Mitteln verhindert werden soll, eine unverrückbare Forderung des türkischen Militärs. Nicht zuletzt geht es auch um die Kontrolle der Ölfelder der nordirakischen Städte Kirkuk und Mossul.

Stürmische See

Erdogan bezeichnet sich selbst als einen verlässlichen Kapitän auf stürmischer See. Stürmisch sind die Zeiten für die Türkei sowohl innen- als auch aussenpolitisch. Ein Regierungschef, der bis vor wenigen Jahren EU und USA ablehnte, muss jetzt darüber Rechenschaft ablegen, warum er sich um 180 Grad gedreht hat. Er muss die türkische Öffentlichkeit, die mit erdrückender Mehrheit gegen einen Irak-Krieg ist, davon überzeugen, dass es keine Alternative zum Militärschlag gegen das Regime in Bagdad gibt. Er muss aber auch seine Wähler ebenso wie das Militär darauf einstimmen, dass der Zypern-Konflikt ohne eine Bereitschaft zu weitgehenden Zugeständnissen der türkischen Seite nicht lösbar ist. Denn solange dieser Konflikt nicht gelöst wird, bleiben Träume von einem EU-Beitritt eben dies - Träume.

Mit Erdogan verfügt die Türkei über einen demokratisch einwandfrei legitimierten Regierungschef mit bequemer absoluter Mehrheit. Das gesamte politische Spektrum der Türkei aber repräsentiert Erdogan nicht. Das Wahlergebnis vom 3. November 2002, das der AKP einen Stimmenanteil von nahezu 35 Prozent bescherte, darf nicht darüber hinwegtäuschen, das die Zehn-Prozent-Klausel dazu geführt hatte, dass 45 Prozent der Stimmen nicht berücksichtigt wurden. Auch die Tatsache, dass alle etablierten Parteien an der Sperrminorität scheiterten, zeigt, dass das Regierungsglück manchmal nur eine einzige Legislaturperiode dauert.

Erdogan muss also das in ihn gesetzte Vertrauen noch rechtfertigen. Aber eines hat der ehemalige Istanbuler Bürgermeister schon jetzt meisterhaft gelernt: Die unterschiedlichsten Stimmungen und Strömungen der Öffentlichkeit für die eigenen politischen Vorhaben einzusetzen.