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Knackpunkt

21. Dezember 2009

Der Satiriker Karl Kraus, das große Vor- oder Feindbild aller Sprachkritiker, hat einmal gesagt: "Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner sieht es zurück."

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Foto von Schriftsteller Burkhard Spinnen
Burkhard SpinnenBild: privat

Das heißt, je intensiver wir uns mit einem scheinbar unauffälligen, Wort der Alltagssprache beschäftigen, desto rätselhafter wird es uns vorkommen.
Ich sehe mir heute einmal den "Knackpunkt" besonders nahe an. Was damit gemeint ist, weiß ja wohl ein jeder. Oder etwa nicht? Doch doch! Knackpunkt, das ist die Stelle, wo es schwierig wird. Das Strittige. Der Punkt, an dem etwas scheitert, weil es zerbricht. Und zwar mit einem deutlich hörbaren "knack".

Knackpunkt Bedeutung

Aber der Knackpunkt ist auch dieses besondere Etwas, das man erkennen muss, damit eine Sache gelingt. Es ist der Punkt, an dem etwas klappt, an dem es sich öffnet. Und zwar mit einem "knack".
Knackpunkt Bedeutung. Ja, was denn nun? Bezeichnet Knackpunkt eher "Sollbruchstelle" oder eher "Stein der Weisen"? Kommt das Knacken vom Zerbrechen oder ist es das Geräusch, mit dem ein Schloss aufspringt?
Ich vermute, kein Sprachforscher wird diese Frage abschließend beantworten können. Knackpunkt kann vieles und auch viel Verschiedenes meinen – und dabei immer suggerieren, die Sache, um die es gerade geht, genau zu treffen. Eben den Knackpunkt.
Diese Vielseitigkeit hat Knackpunkt eine erstaunliche Karriere ermöglicht. Seine Lautmalerei deutet darauf hin, dass es ein Wort von der Straße ist, im alltäglichen Sprachgebrauch entstanden, da wo es schnell gehen muss und da wo man lieber etwas zu deutlich als etwas zu diplomatisch redet.
Doch Knackpunkt hat sich hochgearbeitet. Man begegnet ihm in der Zeitung, in Parlamentsreden und sogar allabendlich bei der Feierstunde des Hochdeutschen: in den TV-Nachrichten. Längst pensionierten Deutschoberlehrern sträuben sich dabei sicher die Nackenhaare. Menschen unter dreißig werden hingegen kaum noch bemerken, dass sich hier ein Wortkarrierist in den vornehmen Etagen etabliert hat.

Sprache lebt

Der Stein von Rosetta, dessen dreisprachigen Inschrift Champollion das Übersetzen der altägyptischen Hyroglyphen ermöglichte, im Innenhof des Museums in Figeac
...ist hier der Knackpunkt zu finden?Bild: picture-alliance/ dpa

Und das ist das Wunderbare an der Sprache: sie lebt. Was bedeutet: sie verändert sich. Sie schafft und verwirft, sie lässt das eine absterben und das andere sich glänzend entwickeln. Sie macht aus einem Straßenwort eine vornehme Vokabel und schickt dafür andere hoch dekorierte Worte in Pension.
Wenn man nun der Sprache schon etwas länger bei ihrem Wesen und Treiben zugesehen hat, bemerkt man solche Veränderungen. Die meisten liebt man nicht, weil sie einen daran erinnern, dass man älter wird und irgendwann gar nicht mehr wird zusehen dürfen. Und weil man daran am liebsten gar nicht erinnert würde, missfallen einem oft die frisch beförderten Wörter. Man wettert dagegen und verwechselt den Frust des Älterwerdens mit Sprachkritik.
Ich persönlich verabscheue zum Beispiel das Wort Knackpunkt. Am liebsten schösse ich es tot. Aber das tut hier ausnahmsweise einmal nichts zur Sache.


Burkhard Spinnen, geboren 1956, schreibt Romane, Kurzgeschichten, Glossen und Jugendbücher. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet. Spinnen ist Vorsitzender der Jury des Ingeborg-Bachmann-Preises. Zuletzt ist sein Kinderbuch "Müller hoch Drei" erschienen (Schöffling).

Redaktion: Gabriela Schaaf