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"Libyen braucht eine geeinte Armee"

Mark Caldwell, Dirke Köpp28. Juli 2016

Der UN-Sonderbeauftragte für Libyen, Martin Kobler, ruft dazu auf, die Souveränität des Landes zu respektieren - auch bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus. Andernfalls drohe weiteres Chaos im Krisenstaat.

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Martin Kobler PK zu Libyen in Berlin (Foto: picture-alliance/dpa/M. Messara)
Bild: picture-alliance/dpa/M. Messara

DW: Seit dem Tod von Muammar Al-Gaddafi 2011 herrscht Chaos in Libyen. Aktuell gibt es heftige Gefechte um die Küstenstadt Sirte - zwischen Milizen, die mit der neuen Einheitsregierung in Tripolis verbündet sind, und Kämpfern der Terrormiliz IS. Sie sind seit gut acht Monaten der höchste UN-Diplomat in Libyen: Was haben Sie erreicht?

Martin Kobler: Unter Gaddafi war Libyen 42 Jahre lang eine Diktatur. Nach der internationalen Militärintervention 2011 ist das Land im Chaos versunken. Wir versuchen jetzt, den Libyern dabei zu helfen, den Staat wieder zu vereinen und aufzubauen. Das gelingt aber nicht über Nacht. Immerhin gibt es jetzt einen Präsidialrat und eine Regierung der nationalen Einheit, die auch zu funktionieren beginnt. Die Zentralbank ist unter Regierungskontrolle, die staatlichen Ölkonzerne sind wieder vereint und versuchen, die Ölexporte zu erhöhen, damit die Staatseinnahmen steigen. Die Sicherheitslage hat sich relativ verbessert, so dass der Präsidialrat seit drei Monaten hier in Tripolis tagen kann - in einer Stadt, wo Milizen das Sagen haben.

Aber von Frieden ist Libyen doch noch weit entfernt…

Ich stimme zu: Das alles reicht bei Weitem nicht, um die riesigen Probleme dieses Landes zu lösen. Die Bevölkerung sehnt sich nach Fortschritt: 60 Prozent der Krankenhäuser haben keinen Strom und sind deshalb funktionsunfähig. Die Leute sorgen sich um die Verfügbarkeit von Geld, um den Wert der Währung gegenüber dem Dollar. Die Vereinten Nationen versuchen, der Regierung zu helfen, die Zersplitterung der politischen Landschaft zwischen Ost- und Westlibyen zu überwinden und den Wiederaufbau und die Einheit der Armee zu unterstützen.

Die Einheitsregierung sitzt in Tripolis, im äußersten Westen des Landes. In weiten Teilen Ostlibyens dagegen führt der selbsternannte General Khalifa Haftar mit seiner Miliz einen Privatkrieg. Was unternehmen Sie, um ihn von einer Zusammenarbeit mit der Einheitsregierung zu überzeugen?

General Haftar und seine Truppen lehnen das libysche politische Abkommen und auch den Vorschlag eines Präsidialrats ab (Anm. d. Red.: Das Libyan Political Agreement LPA zur Bildung einer Einheitsregierung wurde im Dezember 2015 unter Vermittlung der UN geschlossen). Wir sind offen für Gespräche, und ich versuche ständig, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Ich möchte seine Position kennen lernen, um die Differenzen zwischen dem Westen und dem Osten zu überwinden.

Im Kampf gegen den IS kooperieren französische, britische und amerikanische Soldaten auch mit Truppen von General Haftar. Die libysche Einheitsregierung war darüber offenbar nicht informiert. Arbeiten Frankreich, Großbritannien und die USA also mit den falschen Kräften zusammen, nämlich mit Gegnern der vom Westen anerkannten Einheitsregierung?

Die Ereignisse von Nizza (der Anschlag am 14.7.2016) sind immer noch in meinem Kopf. Wir haben in Belgien und Deutschland auch Probleme mit Terrorismus. Deshalb ist der Kampf gegen Terror in Libyen sehr wichtig, aber man muss auch die Souveränität eines Landes respektieren, es soll auch ein Kampf der Libyer selbst sein - geführt von einer libyschen Regierungsarmee, die von der internationalen Gemeinschaft unterstützt wird. Sonst bekommt man eine unübersichtliche Situation. Man muss Einheiten mit einer klaren Befehlskette und regulären Truppen haben, die den Befehlen der Regierung folgen. Erst dann kann das Terrorproblem gelöst werden.

Frieden in Libyen - das würde ja auch helfen, die Flüchtlingskrise zu lösen, zumindest aus europäischer Perspektive…

Das würde aus jeder Perspektive helfen, besonders aus humanitärer. Aber nur wenn die Menschenschmuggler an Land bekämpft werden, wird der Flüchtlingsstrom aufhören. Alle - die internationale Gemeinschaft und die EU - müssen in und mit den Herkunftsländern arbeiten, um den Flüchtlingsstrom nach Libyen aufzuhalten.

Anfang Mai haben Sie gewarnt, dass sich 2016 mindestens 100.000 Flüchtlinge auf den Weg von Libyen Richtung EU machen werden. Mussten Sie diese Zahl inzwischen nach oben oder unten korrigieren?

Dieses Jahr haben bislang 77.000 Flüchtlinge Libyen verlassen, wir haben jetzt Juli, und die "Saison" ist noch nicht zu Ende. Auf unserer Liste stehen 235.000 Flüchtlinge aus afrikanischen Staaten, die sich derzeit in Libyen aufhalten, also erwarte ich, dass es weitergeht. Ein Ende ist noch nicht in Sicht.

Woher kommen diese Flüchtlinge?

Ich war neulich in einem Camp in Tripolis, wo Flüchtlinge bleiben müssen, bevor sie in ihre Heimatländer zurückgeschickt werden. Sie kommen von überall her: aus dem Senegal, aus Gambia, aber auch aus Somalia und Eritrea. Sie durchqueren im Sommer ganz Libyen von Osten nach Westen. Sie sind traumatisiert. Ein Mann aus dem Senegal zum Beispiel hat seine ganze Familie verloren, seine zwei kleinen Kinder und seine Frau. Sie wurden von einem Lastwagen gestoßen, mitten in der Wüste. Menschen wie er sind so traumatisiert, dass sie einfach nur zurück in ihre Heimatländer wollen. Viele andere versuchen es trotzdem über Libyen, weil sie nur in Europa eine Hoffnung sehen.

Martin Kobler ist seit November 2015 Sonderbeauftragter der Vereinten Nationen in Libyen. Davor leitete der Diplomat mehrere Jahre die UN-Friedensmission im Ostkongo.

Das Interview führten Mark Caldwell und Dirke Köpp.