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Allgemeine Verunsicherung

Marcel Fürstenau, Berlin8. Januar 2016

Beim Stichwort innere Sicherheit dachte man in Deutschland bislang vor allem an Terroranschläge. Nach den sexuellen Übergriffen auf Frauen in der Silvesternacht hat sich das geändert - endlich, meint Marcel Fürstenau.

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Ein Einsatzwagen der Polizei steht auf dem Vorplatz des Kölner Hauptbahnhofs.
Bild: Reuters/W. Rattay

Die Wahrscheinlichkeit, in Köln, München oder Leipzig Opfer eines islamistischen Attentats zu werden, ist extrem gering. Trotzdem haben die Deutschen davor seit Jahren am meisten Angst. Das ist emotional verständlich angesichts der Bilder, wie sie uns zuletzt im November aus Paris erreichten. Ähnliche Bilder gab es in den Jahren zuvor aus London (2005), Madrid (2004) oder New York (2001). Diese Anschläge hinterlassen in den Köpfen einer sich westlich und aufgeklärt verstehenden Gesellschaft stärkeren Eindruck als jene in Afghanistan, Irak, Syrien oder Nigeria. Länder und Regionen, die nicht nur geografisch weit entfernt sind, sondern für die meisten hier lebenden Menschen auch kulturell und religiös.

Wenn in Bagdad oder Abuja Bomben explodieren und hunderte in den Tod reißen, denkt in Deutschland niemand an seine eigene Sicherheit. Wenn aber in Paris, wie am Donnerstag geschehen, ein Mann vor einem Polizei-Revier erschossen wird, der "Allah ist groß!" gerufen haben soll, ist der Terror gefühlt ganz nah. Wie stark schlüge der Erregungspegel erst aus, würde sich so etwas in Berlin ereignen?! Und trotzdem müsste man allen zurufen: "Keine Angst, Deutschland gerät deshalb nicht aus den Fugen!"

Deutschland ist eine Insel der Glückseligen

Im weltweiten Maßstab betrachtet ist dieses Land beneidenswert sicher. Das gilt für Gefahren von außen wie von innen. Und trotzdem ist es dringend nötig, schonungslos über Zustände zu reden, die seit langem aus unterschiedlichsten Gründen weitgehend tabuisiert wurden. Nach den massenhaften sexuellen Übergriffen in der Silvesternacht in mehreren deutschen Großstädten ist die Debatte aber voll entbrannt. Und das ist gut so. Denn nun wird endlich offen über kriminelle, menschenverachtende Delikte gesprochen, die alles andere als neu sind. Es bedurfte aber dieser erschreckenden Dimension, um das Thema im Zusammenhang mit der inneren Sicherheit zu diskutieren.

DW-Hauptstadtkorrespondent Marcel Fürstenau
DW-Hauptstadtkorrespondent Marcel FürstenauBild: DW/S. Eichberg

Innere Sicherheit ist nämlich nicht nur eine Frage der Terror-Abwehr. Es gibt viele andere, völlig unterschiedliche Bereiche: Rechts- und Linksextremismus (NSU, autonome Gruppen), soziale Brennpunkte (Parallelgesellschaften) und die ganze Palette der alltäglichen Kriminalität (Auto- und Taschendiebstahl, Wohnungseinbrüche). Das alles und vieles mehr hat mit innerer Sicherheit zu tun. Wohl fast jede/r ist schon mal auf die eine oder andere Weise Opfer oder Zeuge einer Straftat geworden. Und trotzdem entwickelte sich kein weit verbreitetes Gefühl der Unsicherheit. Das scheint sich gerade zu ändern, wenn man den Reaktionen im persönlichen Umfeld und besonders in den sozialen Netzwerken trauen darf.

Unrecht muss spürbar bestraft werden

Die nächtliche Fahrt in der U-Bahn war demnach auch für die meisten Frauen bislang kein Problem. Das ist seit der vergangenen Silvesternacht nicht nur in Köln anders. Damit wieder Vertrauen in die innere Sicherheit gedeihen kann, müssen nun die Weichen gestellt werden. Die Hebel dafür befinden sich in den Händen der ganzen Gesellschaft. Was Unrecht ist, muss bestraft werden. Dafür bedarf es keiner schärferen Gesetze, sondern lediglich der Anwendung bestehender. Das schließt die Abschiebung ausländischer Täter ein, wenn die Voraussetzungen erfüllt sind. Das hat nichts mit Fremdenfeindlichkeit zu tun, sondern ist eine Frage der Rechtsstaatlichkeit. Überführte und verurteilte Täter mit deutschem Pass landen natürlich auch im Gefängnis. So einfach ist das - theoretisch jedenfalls.

Strafen sind ein wichtiger Bestandteil der inneren Sicherheit. Sie vermitteln das Gefühl, dass Kriminalität jeglicher Art nicht folgenlos bleibt. Das Problem liegt jedoch darin, dass die Aufklärungsquoten allgemein sehr gering sind. Bei manchen Delikten tendieren sie gegen Null. Wem sein Fahrrad gestohlen wird, der sieht es in aller Regel niemals wieder. Körperliche Angriffe werden zwar häufiger aufgeklärt und auch geahndet. Aber die seelischen Verletzungen wird man niemals ganz los. Und je häufiger sie passieren und je intensiver darüber berichtet wird, desto stärker wird das Gefühl der allgemeinen Verunsicherung. Auch bei denen, die davon persönlich gar nicht betroffen sind.

Die Kehrseite der Parole "Weniger Staat, mehr privat"

Dieser Trend kann nur umgekehrt werden, wenn endlich mit Augenmaß und Besonnenheit an den richtigen Stellen in Sicherheit investiert wird. Dazu gehören in erster Linie mehr Polizisten im öffentlichen Raum. Sie verdienen alle materielle und moralische Unterstützung. Kritik an Versäumnissen, so berechtigt sie im Einzelfall sein mag, fällt letztlich auf die politisch Verantwortlichen zurück. Was wir jetzt mit aller Wucht erleben, ist auch eine Folge der lange propagierten Parole "Weniger Staat, mehr privat". Eine Folge davon ist das stetig wachsende Heer privater Sicherheitsdienste. Die kann und will sich nicht jeder leisten. Abgesehen davon wird das Gewaltmonopol des Staates schleichend untergraben.

Und wie werden wir die um sich greifende Verunsicherung nun wieder los? Nicht von heute auf morgen, das steht fest. Aber mit einer ehrlichen Debatte, hartem Durchgreifen, Geduld und dem Verzicht auf populistische Forderungen. Dazu gehören der reflexartige Ruf nach noch mehr Videoüberwachung und dem Einsatz der Bundewehr im Innern. Oder wollen wir uns in Deutschland damit abfinden, Silvester am Brandenburger Tor künftig mit tausenden schwer bewaffneten Soldaten feiern zu müssen?

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