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Kommentar: Denkmal zum Nachdenken

Felix Steiner2. September 2014

"Lebensunwertes Leben" nannten die Nazis Menschen mit Behinderung und brachten sie um. Daran erinnert nun ein neuer "Gedenk- und Informationsort" in Berlin. Aber Gedenken allein reicht nicht, meint Felix Steiner.

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Mahnmal für die Opfer nationalsozialistischer "Euthanasie"-Morde (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

Nun also auch ein Denkmal für die Menschen mit Behinderung, die die Nationalsozialisten systematisch ermordet haben. Damit setzt sich leider die Kategorisierung von Opfern fort, die mit dem Holocaust-Mahnmal allein für die ermordeten Juden Europas begonnen hatte. Geschichtsinteressierte haben jetzt rund um den Berliner Tiergarten vier Anlaufpunkte, an denen sie sich über die Monstrosität des nationalsozialistischen Weltbilds informieren können. Sie können des Völkermords an den Juden gedenken, kaum einen Steinwurf entfernt der brutalen Verfolgung der Homosexuellen, wieder einige Hundert Meter weiter der Vernichtung der Sinti und Roma und jetzt eben auch der gezielten Tötung der Behinderten. Vielleicht nutzen Menschen diese Orte sogar - das ist eigentlich der ursprüngliche Sinn solcher Stätten -, um die Opfer der einer menschenverachtenden Ideologie entsprungenen Massenmorde zu betrauern.

Es beschleicht einen aber der böse Verdacht, dass es im Wesentlichen eine Frage der politischen Lobby-Arbeit ist, für welche Opfer wann und wo in welcher Dimension ein Gedenkort errichtet wird. Darüber, wie die deutsche Gesellschaft inzwischen zur jeweiligen Gruppe steht, wie sie im Alltag mit ihr umgeht, sagt die Existenz eines Denkmals jedoch so gut wie nichts. Mit Blick auf Menschen, die nicht der "Norm" entsprechen, sind da zwei einander widersprechende Tendenzen auszumachen.

Optimale Förderung von Menschen mit Behinderung

Deutschland hat heute ein hervorragendes, flächendeckendes Netzwerk an Schulen, Heimen und Werkstätten für behinderte Menschen. Hier werden sie je nach Art und Grad ihrer Beeinträchtigung optimal betreut, gefördert und auch gefordert. Weil es für jeden Menschen wichtig ist, zu spüren, dass er gebraucht wird, eine Aufgabe hat. Diese Einrichtungen sind in Deutschland keine Verwahranstalten mehr, in denen insbesondere Patienten mit geistiger Erkrankung oder Behinderung einfach weggeschlossen werden, so wie man sie heute noch in vielen Ländern Ost- und Südosteuropas findet. Und niemand in Deutschland, der ein behindertes Kind hat, muss dieses heute aus Scham oder Angst verstecken. Insofern hat sich Deutschland geradezu vorbildlich entwickelt.

Zwei aktuelle Stichworte und die damit einhergehenden gesellschaftlichen Diskussionen machen jedoch deutlich, dass die Akzeptanz von behinderten Menschen längst nicht in allen Köpfen fest verankert ist. Das erste Stichwort heißt "Inklusion": Deutschland ist der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen beigetreten. Die Konvention beschreibt den gemeinsamen Unterricht von behinderten und nichtbehinderten Kindern an allgemeinbildenden Schulen als Normalfall. In einem Land wie Deutschland, wo es eine breite Palette an Spezialschulen mit besonders ausgebildeten Pädagogen gibt, können Eltern und Lehrer inzwischen prüfen: Wo ist das Kind besser aufgehoben? Verstörend ist, dass viele Eltern gesunder Kinder laut protestieren, weil sie fürchten, dass das Leistungsniveau der Klassen mit Schülern mit besonderem Förderbedarf sinkt. Leiser beschweren sich dagegen die Eltern behinderter Kinder, wenn gute Spezialschulen geschlossen werden, weil nicht mehr genug Bedarf da ist. Toleranz gegenüber Behinderten gibt es auch heute noch vielfach nur da, wo Menschen selbst nicht unmittelbar betroffen sind.

Deutsche Welle-Redakteur Felix Steiner (Foto: DW)
Felix Steiner, DW-RedakteurBild: DW/M.Müller

Von Geburt an "behindert" - "muss das noch sein?"

Das zweite Stichwort ist eigentlich ein Begriffspaar und heißt zum einen "Pränataldiagnostik" und zum anderen "Spätabtreibung". Die vorgeburtliche Diagnostik macht es heute möglich, eine immer größere Anzahl von Dispositionen bereits bei Ungeborenen zu erkennen. Vielen werdenden Eltern, beispielsweise von Kindern mit Down-Syndrom, wird dann eine Abtreibung empfohlen, die bis zur 22. Schwangerschaftswoche straffrei bleibt. Und obwohl die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland in den vergangenen Jahren zurückgegangen ist, steigt die Zahl der Abtreibungen mit diesem Hintergrund an.

Noch deutlicher ist das, was Eltern berichten, die heute ein Kind mit Beeinträchtigung zur Welt bringen: "Das ist doch heute nicht mehr nötig", sei ihnen von Freunden, Nachbarn oder Verwandten noch während der Schwangerschaft oder unmittelbar nach der Geburt gesagt worden. Das gaben vor einigen Jahren 100 Prozent der Väter und 72 Prozent der Mütter für eine Studie zu Protokoll. Dieses Denken liegt bereits ziemlich nah an der nationalsozialistischen Ideologie vom "lebensunwerten Leben". Vielleicht findet der eine oder andere Besucher am neuen "Gedenk- und Informationsort" in Berlin Zeit, Ruhe und Gelegenheit, auch darüber einmal nachzudenken.