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Der Wahn, das Netz und die Extremisten

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp
31. Mai 2015

Das Internet macht Verfassungsschützern Sorgen. Denn zunehmend nutzen es politische Extremisten für ihre Propaganda. Kein Wunder, meint Kersten Knipp. Denn im Netz spiegelt sich die politische Entwicklung der Gegenwart.

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Salafisten vor dem Brandenburger Tor (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/dpa/ W.Steinberg

Das Internet: ein Medium politischer Extremisten. So ungefähr formulieren es die Verfassungsschützer, Polizisten und Lehrer, die diese Woche in Potsdam zusammengetroffen sind, um über das World Wide Web als Einfallstor politischer Extremismen zu beraten. Denn über eines herrscht Einigkeit: Das Netz ist das Medium, über das junge Menschen heute am häufigsten von politischen Extremisten umworben werden. Linksradikale, Rechtsradikale, Gotteskämpfer: Sie alle schleichen sich an ihre künftigen Opfer vorzugsweise über digitale Pfade heran.

Aus Sicht der Extremisten muss man sagen: Das ist das Beste, was sie tun können. Denn das Internet ist ein Medium der grenzenlosen Angebote ebenso wie der totalen Haltlosigkeit. Beides hängt auf das Engste zusammen. Denn das Netz holt die ganze Welt ins Haus - und entfremdet seine Nutzer im Gegenzug ihrer direkten Umgebung, zum Beispiel ihrer Familie. Eben darauf setzen die Extremisten.

Ende der Traditionen

Zugleich hat das Internet dabei geholfen, das zu sprengen, was früher einmal "Tradition" hieß. Also ein mehr oder weniger klar umrissenes Feld all dessen, was man für wissenswert hielt und darum von einer Generation an die nächste weitergab. Außerdem gehörten zu diesem Kanon auch ein paar Vorstellungen darüber, was gut, richtig und angemessen ist, und was man darum ebenfalls pflegen sollte.

Die Traditionen haben sich in weiten Teilen aufgelöst. Man kann das gut finden. Endlich ist der Mensch frei, kann tun und lassen, was er will, braucht sich vor Königen, Großmeistern und Propheten nicht mehr verbeugen. Braucht sich von niemandem mehr vorschreiben lassen, wie er zu leben hat. Was für ein Fortschritt!

Mehr und mehr zeigen sich seit geraumer Zeit allerdings die Kosten dieses Fortschritts: Die Traditionen sind dahin, und was in altmodischen Zeiten mal "Werte" hieß, existiert nur noch sehr eingeschränkt. Jeder benimmt sich so, wie er es für richtig hält. Während früher Traditionen den Lebensweg vorgaben, muss man ihn sich heute selber suchen. Und weil die Traditionen, da sie abgeschafft sind, auch keine Auskunft mehr darüber geben können, was angemessen ist und was nicht, darf jeder glauben, immer und überall das Richtige zu tun und im Recht zu sein. Es ist die Zeit der aufgeblähten Ichs. Der Zerfall des Kanons gebiert die Egomanen.

Knipp Kersten (Foto: DW)
DW-Redakteur Kersten Knipp

"Kritik" statt Bildung

Damit ließe sich noch umgehen - wenn die Egomanen nicht derart überschüssige Kräfte hätten. Der gestürzte Kanon umfasst nämlich nicht nur eingespielte Verhaltensmuster. Er erstreckt sich ja auch auf Wissen und Bildung. Dass Bildung etwas wert sei und sich entsprechende Anstrengungen lohnen, galt bis vor einiger Zeit als ausgemacht. Doch inzwischen haben Unterhaltungsmedien, Bildungsreformen und eine Kultur des "Zweifels" der Bildung derart zugesetzt, dass sie nur noch ein Schatten ihrer selbst ist. In Zeiten, in denen alles Wissen nur einen Mouse-Klick entfernt ist, hat Bildung ihren Glanz verloren. An ihre Stelle ist die "Kritik" getreten, die überall zu hörende Empfehlung, die Dinge kritisch zu hinterfragen.

Diese Kultur der Kritik hat sich auf breiter Front durchgesetzt. Warum, ist klar: Sie macht das Leben bequem, denn sie verpflichtet zu nichts mehr. Man muss sich das Wissen über die Dinge der Welt nicht mehr mühsam aneignen. Es reicht, eine kritische Attitüde ihnen gegenüber an den Tag zu legen.

Grenzenloser Raum der Utopien

Genau da setzen die Extremisten an: Ihre Programme kommen als Kritik daher - und sind intellektuell zugleich von ungeheurer Dürftigkeit. Ein Führer für die Rechten, ein Revolutionär für die Linken, ein Prophet für die Frommen: Man kennt die Embleme und Sprüche, die schlichten Utopien, mit denen Extremisten für sich werben. Eben damit sind sie ganz auf der Höhe der Zeit. Denn sie stellen an diejenigen, die sie umwerben, keine nennenswerten Ansprüche. Nichts ist kompliziert, alles kann sofort begriffen werden. Der Kanon früherer Tage hat sich unter ihren Händen ungeheuer vereinfacht. Er besteht aus kaum mehr als zwei, drei Schlagworten. Für ungebildete Egomanen ein außergewöhnlich verführerisches Angebot. Nie, so scheint es, waren Bildung und Identität billiger zu haben.

Und das erklärt auch, warum gerade das Internet für die Verbreitung extremistischer Ideologien so geeignet ist: Es leitet die realitätsfernen Utopien ins Unendliche, in den grenzenlosen Raum der ewigen Verheißungen. In der wirklichen Welt mag haltloses Geschwätz früher oder später an seine Grenzen stoßen. Im Netz dagegen entschwebt es in den niemals zu widerlegenden Raum der Phantasie oder auch des Wahns. "Wer nichts wird, wird Wirt", hieß es früher. Wer heute nichts wird, besucht die Webseiten politischer und religiöser Extremisten.

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DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika