1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Die angebliche Überforderung

Felix Steiner16. Oktober 2014

Rund 200.000 Flüchtlinge und Asylbewerber werden vermutlich in diesem Jahr nach Deutschland kommen. Länder und Kommunen sprechen von einem Notstand. Doch viele Probleme sind hausgemacht, meint Felix Steiner.

https://p.dw.com/p/1DWiJ
Zentrum für Asylbewerber in München: Eine Frau sitzt mit ihrem Kind in einem Hochbett in einer Turnhalle (Foto: Reuters)
Bild: Reuters/Michaela Rehle

Die Deutschen genießen weltweit einen hervorragenden Ruf als Weltmeister in Sachen Organisation. Doch der nimmt gerade mächtig Schaden. Nicht nur, weil die Bundeswehr nur noch mit Mühe Soldaten und Material von A nach B fliegen kann. Sondern auch, weil die sonst als zuverlässig geschätzte deutsche Verwaltung mit der geordneten Aufnahme und Unterbringung von 200.000 Flüchtlingen augenscheinlich an ihre Grenzen stößt. Allenthalben ist von "Notstand" und "Chaos" die Rede. Die Medien zeigen Bilder von Matratzenlagern in großen Hallen, Zelten als Notunterkünfte sowie Waschräumen und Toiletten in Flüchtlingsheimen, die im wahrsten Sinne des Wortes zum Himmel stinken.

Zahlen sind relativ

Albert Einstein lehrte, dass alles relativ ist. Insbesondere Zahlen. 200.000 Flüchtlinge, die in diesem Jahr nach Deutschland kommen, sind auf den ersten Blick sehr viele. Aber doch sehr wenige, gemessen an den mehr als 50 Millionen Menschen, die derzeit weltweit auf der Flucht sind. 200.000 Flüchtlinge, die zu einem 80-Millionen-Volk stoßen - das ist ein Flüchtling auf 400 Einwohner. Im Libanon kommt derzeit ein syrischer Flüchtling auf vier Einwohner. Das sind viele! 200.000 Flüchtlinge - die Zahl erscheint den Deutschen vor allem deswegen so hoch, weil es siebenmal mehr sind, als noch vor fünf Jahren hierher kamen. Aber es waren auch schon einmal deutlich mehr: fast 450.000 im Jahr 1992, auf dem Höhepunkt der Balkan-Kriege. Ohne dass Deutschland damals daran zerbrochen oder der Wohlstand in Gefahr gewesen wäre!

Was passiert also gerade in Deutschland? Zunächst einmal ist der Irrsinn des Föderalismus zu besichtigen: Jedes Bundesland, jeder Landkreis und jede Stadt müssen nach einem festgelegten Schlüssel Menschen aufnehmen. Ganz gleich, wie die Situation vor Ort eigentlich ist - ob schon Wohnungsnot herrscht oder die Arbeitslosenzahl extrem hoch ist. Mancher Bürgermeister und Sozialverband versucht dann Politik zu machen, indem man demonstrativ eine Zeltstadt errichten lässt und alle Kamerateams der Republik dazu einlädt. Seht her - so wird es sein, wenn wir keine Hilfe bekommen! Obwohl die Zeltstadt dann gar nicht gebraucht wird. Die Stadt Duisburg hat das vorgemacht.

Deutsche Welle Felix Steiner (Foto: DW)
DW-Redakteur Felix SteinerBild: DW/M.Müller

Langwierige bürokratische Verfahren

Dass ausgerechnet das wohlhabende Bundesland Bayern mit haarsträubenden Zuständen Schlagzeilen macht, ist gleichfalls kein Zufall. Natürlich hat das etwas mit einer Landesregierung zu tun, die vor der absehbar steigenden Zahl nach Deutschland kommender Syrer über Monate die Augen verschlossen hat. Aber in erster Linie liegt es daran, dass die Zahl der in Bayern ankommenden Menschen besonders hoch ist: In München enden nämlich die Eisenbahnlinien aus Italien und Südosteuropa, über die die Masse der Flüchtlinge einreist. Die müssen vor Ort erst das komplizierte Prozedere der sogenannten "Erstaufnahme" durchlaufen, bevor sie in andere Regionen weitergeleitet werden können.

Die Deutschen sind eben Organisationsweltmeister - und genau darin liegt ein Gutteil des Problems: Was ein Flüchtling ist und was ein Asylbewerber, ist gesetzlich genau definiert. Ebenso, welche Gruppe wie versorgt und untergebracht werden muss. Asylbewerber ist zum Beispiel jeder, der auf eigene Faust nach Deutschland gekommen ist - selbst wenn er aus Syrien stammt. Daher muss er ein Monate dauerndes Anerkennungsverfahren durchlaufen, obwohl alle Syrer derzeit unbegrenzt in Deutschland bleiben dürfen. Und so lange dieses Anerkennungsverfahren läuft, ist die Unterbringung in großen Sammelunterkünften vorgesehen - selbst wenn vor Ort 1000 Drei-Zimmer-Wohnungen leer stehen.

Vor Ort helfen viele Bürger gern

Dass es vor Ort fast regelmäßig Proteste gegen die Einrichtung solcher Sammelunterkünfte gibt, mag man für verwerflich halten. Neben der Angst vor dem Wertverlust der benachbarten Grundstücke beruhen sie wohl in erster Linie auf einer diffusen Angst vor so vielen Fremden auf einem Fleck. Diese Proteste bedeuten jedoch nicht, dass die Deutschen grundsätzlich gegen die Aufnahme von Flüchtlingen wären. Ganz im Gegenteil: Neueste Meinungsumfragen belegen, dass angesichts der Bilder aus Syrien mehr als die Hälfte der Bundesbürger noch mehr Flüchtlinge von dort aufnehmen will. Eine Hilfsbereitschaft, die fast überall in Deutschland konkret greifbar wird, wenn Flüchtlinge vor Ort eintreffen: Bürger gründen Helferkreise, die Flüchtlinge betreuen und Spenden sammeln.

Überfordert im Herbst 2014 ist also nicht Deutschland, sondern allenfalls die deutsche Bürokratie. Anerkennungsverfahren für Flüchtlinge aus Kriegsregionen abkürzen, sie dezentral in normalen Wohnungen unterbringen, Deutschkurse anbieten und die Arbeitsaufnahme schnellstmöglich erlauben - das wären Schritte zu einer zügigen Integration. Dass die Flüchtlinge schnell wieder nach Hause zurückkehren können, glaubt ohnehin kaum jemand. Gut integrierte Menschen, die dankbar sind, dass sie hier leben können, sind aber keine Last, sondern ein Gewinn für die deutsche Gesellschaft!