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Ein epochales Krisenjahr

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Alexander Kudascheff
25. November 2015

Es erinnert an die Zeit des Kalten Krieges: Der Abschuss eines einzelnen Kampfflugzeuges gerät zur Schlagzeile der Weltpolitik. Ein Indiz, wie vertrackt die Lage derzeit ist, meint DW-Chefredakteur Alexander Kudascheff.

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Türkei Syrien Kampfjet Russland Abschuss Grenzgebiet
Bild: picture-alliance/dpa/Anadolu Agency

Die Weltpolitik ist zurzeit ein Pulverfass. Die Fronten und Linien verschieben sich fast täglich. Die Konfrontation nimmt zu - zwischen Regionalmächten, aber auch zwischen den Großen. Der Abschuss des russischen Bombers - sei es über Syrien oder über türkischem Gebiet - durch die Türkei zeigt, wie angespannt die Nerven überall sind, wie brisant, ja wie explosiv die Lage momentan ist.

Die Türkei reagiert allergisch auf den Luftkrieg Russlands gegen die syrische Opposition und gelegentlich auch den IS. Sie reagiert besonders empfindlich, weil sie glaubt, dass Russland gezielt gegen die turkmenischen Rebellen vorgeht, die gegen Assad kämpfen. Und damit trifft Russland jene Türkei, für die der ideelle Verbund der Turkvölker ein großes Ziel bleibt. Jene Türkei, die sich aber auch als Verbündeter aller Gegner Assads empfindet - und deswegen den Siegeszug des IS lange hingenommen hat. Zu lange, wie man heute weiß - nicht erst seit Paris, sondern schon seit den Anschlägen in der Türkei selbst.

Russland die Stirn bieten und als Verbündeten gewinnen

Die NATO wiederum muss reagieren, tut es aber gleichermaßen solidarisch mit Ankara, wie auch im Ton und in der Haltung deeskalierend gegenüber Moskau. Niemand will in der ohnehin unübersichtlichen Lage in und um Syrien herum, auch nur durch Worte Öl ins Feuer gießen. Denn trotz des Abschusses hofft man im Westen immer noch, den syrischen Bürger-und Stellvertreterkrieg zusammen mit Russland beenden zu können. Militärisch und auch politisch. Dafür braucht man Russland, handelt sich aber auch Assad ein, den man in den westlichen Hauptstädten bestenfalls als Übergangslösung akzeptiert, weil das Hauptziel der IS ist. Vor allem nach den Anschlägen in Paris, aber auch in Beirut und in Bamako. Der islamistische Terrorismus greift und breitet sich wie eine Krake in alle Richtungen aus. Im Nahen Osten ebenso wie in Afrika, in Asien und auch in Europa.

Er stellt die gegenwärtig größte militärische und politische Herausforderung der Weltpolitik dar. Nur die hat eben mehr als unterschiedliche Interessen: Frankreichs Präsident Hollande möchte einen gemeinsamen Feldzug gegen den IS orchestrieren, doch die Partner sind eher zögerlich. Die USA schlagen zwar aus der Luft zu, möchten sich aber nicht in das politische und ideologische Wirrwarr am Boden hineinziehen lassen. Obwohl man natürlich im Pentagon weiß, dass sich am Schluss Bodentruppen nicht vermeiden lassen werden, wenn man den IS vernichten will. Doch Präsident Obama denkt nicht im Traum an Bodentruppen. Und die großen Regionalmächte - Saudi-Arabien und der Iran - haben außer dem jeweiligen Interesse, ihre Vormacht zu sichern, nicht die geringsten deckungsgleichen Absichten.

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DW-Chefredakteur Alexander Kudascheff

Welche Rolle kann und muss Deutschland spielen?

Deswegen hat François Hollande auch die Europäer um Hilfe und Beistand gebeten. Die Reaktion war selbst rhetorisch zurückhaltend. Auf Deutschland, den engsten Verbündeten Frankreichs, aber kommen unangenehme Fragen zu: Wie will man Paris unterstützen, vor allem wie kann man es? Bestimmt nicht in Syrien. Eher durch Entlastung an Orten, in denen Frankreich militärisch engagiert ist, zum Beispiel in Mali. Die Bundesregierung will genau dieses anbieten und die Bundeswehr kann das auch leisten - die deutsche Bevölkerung ist aber selbst in diesem Punkt skeptisch. Das deutsch-französische Bündnis steht vor seiner härtesten Bewährungsprobe.

Die Weltpolitik ist in Unordnung geraten. Die Verhältnisse sind unübersichtlich. Denn neben der terroristischen Bedrohung durch den IS hält die andauernde, ungelöste Flüchtlingskrise Europa und viele andere Weltgegenden in Atem. Ganz praktisch, weil die staatlichen Institutionen kaum noch wissen, wie sie mit den Alltagsproblemen fertig werden sollen. In die Zukunft gerichtet, weil niemand weiß, wie man Millionen Menschen aus anderen Kulturkreisen und anderen Traditionen integrieren kann. 2015 ist ein epochales Krisenjahr - und noch nicht zu Ende.

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