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Ein Sieg, der Brüssel keine Freude macht

Barbara Wesel Kommentarbild App *PROVISORISCH*
Barbara Wesel
2. November 2015

Eine Koalitionsregierung in Ankara hätte der EU besser gefallen. Jetzt muss sie nach Erdogans Pfeife tanzen, wenn sie seine Hilfe in der Flüchtlingskrise will. Eine unangenehme Lage, meint Barbara Wesel.

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Flaggen EU und Türkei (Symbolbild)
Bild: picture-alliance/dpa/Landov

Wir wünschen uns eine stabile Regierung in Ankara, so hieß es offiziell bei der Europäischen Union vor diesem Wahlsonntag. Dass daraus aber ein so rauschender Sieg des alten und neuen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan wird, damit hatten die meisten nicht gerechnet. Haben die Demoskopen wieder einmal total daneben gelegen? Oder ist es bei der Wahl doch nicht mit rechten Dingen zugegangen? Als ob der neu entfachte Krieg gegen die Kurden, die unaufgeklärten Bombenattentate, die Unterdrückung der Opposition und die Schließung kritischer Medien nicht genug wären, um Zweifel an der demokratischen Qualität dieser Wahlen zu wecken.

Die EU braucht den "Sultan vom Bosporus"

Die Ironie der Geschichte ist, dass die EU jahrelang die Auseinandersetzung mit dem "Sultan vom Bosporus" vernachlässigt hat. Man musste sich ja nicht mit ihm streiten, weil die Beitrittsverhandlungen sowieso eingefroren waren. Und so hat sich ein zunehmend autokratischer Herrscher an der Türschwelle der EU entwickelt - nicht wirklich wahrgenommen von Brüssel, weil es dort ja wichtigere Themen gab. Jetzt aber sind die Europäer in der schlechten Lage, dass sie Erdogan mehr brauchen, als er sie. Ohne ihn gibt es keine Lösung in der Flüchtlingskrise, die die Union zu zerreißen droht. Der Präsident aber verspürt so gar keinen politischen Druck mehr: Seine Macht ist gesichert und innenpolitisch sind die zwei Millionen Syrer in der Türkei für ihn kein Thema. Offensichtlich betrachten seine Landsleute sie mit größter Gelassenheit.

Erdogan ist also in der bequemen Situation, dass er den politischen Preis selbst für das kleinste Entgegenkommen beliebig hoch schrauben kann. Es werde jetzt eine längere Phase der Basar-Diplomatie folgen, sagen Brüsseler Insider. Und viele glauben, dass der türkische Präsident dabei am längeren Hebel sitzt. Nach dem Vorbild von Angela Merkel werden die Spitzen Europas zu Erdogan pilgern und vor ihm das Haupt beugen müssen. Was für ein rundum unerfreuliche Gedanke! Die EU sei jetzt abhängig von der Gnade Erdogans, formuliert ein altgedienter Europa-Parlamentarier. Das ist leider wahr, und der Präsident wird das auskosten.

Barbara Wesel Studio Brüssel
Barbara Wesel, DW-Korrespondentin in BrüsselBild: DW/G. Matthes

Wie weit geht Realpolitik ?

Die Frage für die Europäer ist angesichts dessen nicht mehr, ob sie ihre Grundsätze verkaufen, um sich die Kooperation der Türken zu sichern, sondern nur noch, wie weit sie dabei gehen. Wenn die osteuropäischen Staaten den geringsten außenpolitischen Verstand besäßen, müssten sie erkennen, dass ein EU-interner Kompromiss besser wäre, als sein Schicksal dermaßen von dem Autokraten in Ankara abhängig zu machen.

Aber da keine Vernunft vom Himmel regnen wird, stehen wir vor zähen und peinlichen Verhandlungen. Die Europäer werden sich dabei immer wieder fragen müssen, wie viel ihnen ihre demokratischen Werte überhaupt noch wert sind. Es ist ein Ausverkauf in Raten: Sie haben es schon im Fall des kleinen Diktators in Ungarn versäumt, rechtzeitig mit der Faust auf den Tisch zu schlagen. Jetzt haben sie gegenüber Erdogan, der auf dem Wege ist, zum großen Diktator der Türkei zu werden, wenig Argumente und keine politischen Druckmittel mehr, um Demokratie einzufordern.

Verhandlungen werden unerfreulich

Die kommenden Verhandlungen darüber, ob und zu welchen Preis der türkische Präsident Flüchtlinge von der Weiterreise abhält und für die EU den Grenzwächter spielt, werden unerfreulich. Das einzige Pfand in der Hand der Europäer ist dabei der türkische Wunsch nach einer Visa-Liberalisierung - sie wäre für Erdogan wirtschaftlich wichtig. Überhaupt lässt sich allenfalls noch über Wirtschaftskooperation ein Weg finden, ihm Zugeständnisse in der Flüchtlingsfrage abzuringen.

Die Linie aber, den die Europäer in dem anstehenden Gefeilsche nicht überschreiten dürfen, liegt beim Umgang mit den Kurden: Lenkt Erdogan ihnen gegenüber nicht ein, muss die EU die Reißleine ziehen und die Flüchtlingskrise ohne ihn lösen. In Europa bestätigt sich gerade wieder der alte chinesische Fluch, wonach böse dran ist, wer in interessanten Zeiten lebt.

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