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Eine typisch deutsche Diskussion

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Gero Schließ
15. April 2016

Kritiker sprechen im Fall Böhmermann vom Kniefall der Kanzlerin vor dem türkischen Präsidenten Erdogan: nur der vorläufige Höhepunkt einer eigenartig verkrampften Diskussion um ein Schmähgedicht, meint Gero Schließ.

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Bild-Kombo Böhmermann Merkel Erdogan
Drei Gesichter beherrschen die Schlagzeilen dieser Tage: Jan Böhmermann, Angela Merkel und Recep Tayyip Erdogan (v.l.)

Die Deutschen machen es sich nicht leicht. Sie wollen alles richtig machen, am besten 150-prozentig. Und sich auf keinen Fall von anderen sagen lassen müssen, sie hätten geschlampt oder wären gar ihren Grundsätzen untreu geworden. Nicht nur bei der peinlichen Beachtung der EU-weit geltenden Verschuldungsgrenze oder der vorbildlichen Mülltrennung lässt sich das beobachten. Sondern eben auch bei ganz großen Gesten, wie den spontan geöffneten Armen, mit denen die Kanzlerin Hundertausende von Flüchtlingen aufgenommen hat.

Sogwirkung ins Gutmenschentum

In solchen Fällen scheinen die Schatten der Vergangenheit eine unwiderstehliche Sogwirkung ins Gutmenschentum auszuüben. So jedenfalls wird es oft im Ausland wahrgenommen und dort zuweilen mit einem feinen Lächeln registriert.

Wie nicht anders zu erwarten, bestimmen ähnliche Reflexe jetzt auch die Diskussion um Jan Böhmermanns Schmähgedicht gegen Recep Tayyip Erdogan und die Frage, ob man dem massiv aufgebauten Druck des türkischen Präsidenten nachgeben darf. Da geht es schnell ums Grundsätzliche, um die Grundfesten der Demokratie - mag Böhmermanns Text auch noch so verunglückt und geschmacklos sein. Und dann übt sogar die Washington Post harsche Kritik am "Geschwafel" der Kanzlerin und rührt noch einmal tief in der Wunde der Deutschen, die doch so gerne Musterknaben sein wollen. Ein weiterer Dreh in einer ohnehin schon verhärteten Debatte.

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Gero Schließ ist Kulturkorrespondent im Hauptstadtstudio

Vorläufiger Höhepunkt ist jetzt der anschwellende Chor der Kritiker, die Angela Merkels Entscheidung über die Zulassung eines Strafverfolgungsverfahrens mit immer drastischeren Formulierungen geißeln. Der Fraktionsvorsitzende der Grünen, Anton Hofreiter, surft dabei allenfalls auf der bereits hochgepeitschten Welle der Empörung, wenn er mit erhobener Stimme feststellt, Merkel sei eingeknickt vor Erdogan, um ihren "schmutzigen Deal" mit der Türkei durchzuziehen.

Kein gelassenes Signal der Festigkeit

Doch warum nicht im eigenen Land auf die Mechanismen des Rechtsstaates vertrauen, fragt man sich, wenn man doch von aller Welt - und nicht zuletzt den Türken - das Gleiche verlangt. Warum sollen nicht die Gerichte entscheiden, wie es das Gesetz vorsieht und wie es bei jeder "gewöhnlichen" Beleidigungsklage auch geschieht? Darauf zu verweisen könnte durchaus als gelassenes Signal von Festigkeit und Stärke wahrgenommen werden. Und es würde nichts wegnehmen von der berechtigten Kritik an Erdogans autokratischem Regierungsstil, seiner Verfolgung von Meinungsfreiheit und der völlig überzogenen Reaktion auf Böhmermann.

Verkrampfung und Verhärtung

Dass die Kanzlerin zwar die Strafverfolgung genehmigt, aber dies in keiner Weise offensiv begründet, lässt den Druck erahnen, unter dem sie steht. Und es sagt etwas aus über die eigenartige Verkrampfung, mit der die Debatte geführt wird. Es war daher nur eine Frage der Zeit, bis dieses Thema auch zum Spaltpilz in der Koalition heranwuchs. Doch ein offen ausgetragener Dissens nur anderthalb Tage nach einem Koalitionsgipfel mit genug Sprengstoff für eine handfeste Regierungskrise - das ist auch noch nicht dagewesen in dieser Koalition.

Die Bereitschaft, kurzfristig den Paragrafen 103 über die Beleidigung von ausländischen Staatsoberhäuptern abzuräumen, ist gewiss großkoalitionärer Kompromissmechanik geschuldet. Aber ist es nicht auch eine typisch deutsche Art, in vorauseilender Gründlichkeit mögliche Steine des Anstoßes vorsorglich aus dem Weg zu räumen?

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