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Direkte Präsidentenwahl

Baha Güngör11. Mai 2007

Die Verfassungsänderung in der Türkei ist ein Schachzug Erdogans, um seinen politischen Gegnern und der Armee den Wind aus den Segeln zu nehmen, meint Baha Güngör in seinem Kommentar.

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Bild: DW

Das ganze sieht auf den ersten Blick sehr demokratisch aus. Das türkische Volk soll in die Lage versetzt werden, seinen Präsidenten künftig selber zu wählen. Das Parlament soll von dieser in der Verfassung verankerten Pflicht befreit werden, Armee und Verfassungsgericht sollen sich in eine laufende Präsidentenwahl nicht mehr einmischen können, wie kürzlich geschehen.

Dagegen ist jedoch folgendes einzuwenden: Es wird nicht ein Präsident für einen Fußballverein oder Kaninchenzüchterverband gesucht, sondern ein Oberhaupt für ein NATO-Land mit Ambitionen auf weitere Annäherung an die Europäische Union. Und wenn dieses 80-Millionen-Volk den Präsidenten wählen soll und damit die traditionellen Strukturen einer 84 Jahre alten Republik sowie die hergebrachte Verteilung von Kompetenzen in der Staats- und Regierungsführung grundlegend geändert werden sollen, dann darf das keinesfalls die Aufgabe eines Parlamentes sein, das in zehn Wochen neu gewählt wird.

Machtkampf mit der Armee

Erdogan instrumentalisiert das Parlament in seinem Machtkampf mit der Armee. Dagegen wäre grundsätzlich nichts einzuwenden, wenn dieses Parlament neu gewählt worden wäre. Dann wären alle Bedenken überflüssig, dass die Entscheidungen der Volksvertretung nicht dem demokratischen Wunsch des Volkes entsprechen könnte. Das sieht jetzt aber ganz anders aus, weil die Regierung Erdogans vor fünf Jahren mit nur einem Drittel Stimmenanteil, von der Zehn-Prozent-Hürde profitierend, fast zwei Drittel der 550 Sitze erobert hatte.

Zudem müssen sich Erdogan und seine übermütigen religiösen Anhänger, unter denen sich viele verkappte Islamisten mit einer gespaltenen Haltung zu den europäischen Werten befinden, die Frage gefallen lassen, warum sie denn viereinhalb Jahre gewartet haben, bevor sie eine derart wichtige und grundsätzliche Änderung des Regimes beschließen. So ganz nebenbei wurde auch gebilligt, dass türkische Präsidenten künftig statt einer einmaligen siebenjährigen Amtszeit bis zu zwei Perioden von je fünf Jahren über das Land herrschen dürfen.

Januskopf

Was der Türkei droht, ist eine doppelköpfige demokratisch legitimierte Staatsführung. Sowohl der Präsident als auch das Parlament werden nach den Plänen Erdogans vom Volke gewählt werden. Was aber passiert, wenn statt eines religiösen oder konservativen Kandidaten aus den Reihen der politischen Parteien ein Angehöriger der türkischen Armee in den Präsidialpalast einzieht? Oder ein vom Volk gewählter Präsident und ein ebenfalls in freien Wahlen gewähltes Parlament sich in einem Kompetenzgerangel gegenseitig blockieren? Welche Macht und welche Befugnisse werden die staatlichen Institutionen haben? Wie wird die Kompetenzverteilung im Verwaltungsapparat oder in der Bürokratie aussehen?

Eine derart grundlegende Änderung der Staatsverfassung bedarf langer Vorlaufzeiten und umfassender Klärungsprozesse, damit die direkte demokratische Legitimation des Präsidenten durch das Volk für alle Ämter an der Staatsspitze verbindlich ist. Erdogan hingegen wischt alle diese Bedenken beiseite, im Interesse seines Machtkampfes mit politischen Gegnern und Armee, nicht aber im Interesse seines Landes.