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Europa teilt sich

5. Dezember 2015

Mit den großen Krisen entsteht ein neuer Trend in Europa: Die Menschen in den östlichen EU-Mitgliedsstaaten suchen Zuflucht in nationalen, konservativen und antiliberalen Einstellungen, meint Alexander Andreev.

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Ungarn Viktor Orban Premierminister
Ungarns Premier Viktor Orbán - der Fackelträger aller Konservativen in Mittel- und OsteuropaBild: Getty Images/S. Gallup

Ein Gespenst geht um in Europa - das Gespenst des Konservatismus. Die EU droht im Streit um die Flüchtlinge auseinander zu brechen. Das Unwort von "Kerneuropa" macht wieder die Runde. Nicht zuletzt, weil sich die neuen Mitgliedsstaaten aus Mittel- und Osteuropa sehr einig sind. Und sich abgrenzen vom Kurs der Staaten, die der frühere US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld einst verächtlich das "Alte Europa" nannte.

Gegen alles Fremde und für eine starke Hand

Ja, sie wollen keine Flüchtlinge - obwohl sie kaum einen Flüchtling zu Gesicht bekommen haben - und auch keine Flüchtlingsquoten. Ja, der Nationalismus ist in diesen Ländern wieder auf dem Vormarsch und populistische Politiker genießen überall in der Region viel Zustimmung für ihre großmäuligen Parolen gegen das "Fremde" und für eine starke Hand. Und ja: Nach dem atheistischen Zeitalter unter kommunistischer Herrschaft wächst die Bedeutung der Kirchen fast überall in Mittel- und Osteuropa wieder. Was Hand in Hand geht mit einer zunehmend xeno- und homophoben Rhetorik der Bodenständigkeit. Überall sind die Hauptmerkmale des Konservatismus zu erkennen: keine Veränderungen, eine starke Staatlichkeit mit einem starken Mann an der Spitze, Glaube und Tradition, "Wir" gegen die "Anderen".

Schon einmal, unmittelbar vor und direkt nach dem Zusammenbruch des Ostblocks 1989 war in dieser Region Konservatismus angesagt. Allerdings nur als Abgrenzung zu den allein auf dem Papier "fortschrittlichen" und "linken" Staatsparteien. Paradoxerweise sehnten sich die damaligen "Konservativen" in Mittel- und Osteuropa nach Veränderung - selbst nach einer revolutionären! Und natürlich wollten die jeweiligen kommunistischen Parteien den für sie komfortablen Status Quo erhalten. Dadurch ist fast überall in der Region ein aus westlicher Sicht absurdes Durcheinander der politischen Ideen entstanden: von "links" und "rechts", von "konservativ" und "liberal", von markt- und regulierungsorientiert, von kommunistisch und antikommunistisch, von prorussisch und antirussisch. Nachdem sich der Ideenstaub langsam gelegt hat, entsteht jetzt vor unseren Augen ein authentischer ost- und mitteleuropäischer Konservatismus.

Andreev Alexander Kommentarbild App
Alexander Andreev leitet die Bulgarische Redaktion der DW

Authentisch, weil er seine Energien aus diffusen Ängsten der Menschen in der Region schöpft. Nicht nur Flüchtlingswelle und Terrorgefahr - auch Globalisierung, Eurokrise, das aggressive Gehabe Russlands und die noch nicht ganz vorhandene Rechtsstaatlichkeit zu Hause erzeugen unter den Ost- und Mitteleuropäern starke Sehnsüchte: nach Stabilität, nach gut geschützten Grenzen und nach einem einfachen, traditionellen Wertesystem. Überall ist dieser Konservatismus identitätsstiftend antikommunistisch, vielerorts sind die neuen Konservativen auch antiliberal.

Viktor Orbán - Vorbild für viele

Der neue mittel- und osteuropäische Konservatismus hat seinen Fackelträger gefunden: den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán, der sich explizit für konservative, christliche und nationale Werte einsetzt. Auch die neue polnische Regierung ist mit einer ähnlichen Agenda an die Macht gekommen. In anderen Ländern der Region sind die neuen Konservativen - im Unterschied zu Ungarn und Polen - durchaus pro-europäisch, etwa in Bulgarien, Rumänien, Kroatien und den Baltischen Staaten. In der Slowakei und der Tschechischen Republik sind sie etikettenmäßig sogar Sozialdemokraten. Überall bedienen sie aber die Ängste der Bevölkerung vor der neuen Unübersichtlichkeit.

So entsteht 25 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges eine neue und tiefgreifende Teilung Europas. Nicht mehr in "kapitalistisch" und "kommunistisch", nicht mehr in Ost und West, sondern - und vor allem - in konservativ und liberal. Eine Teilung, die in diesen Wochen der Krisen von den Institutionen der EU und dem "Alten Europa" noch nicht wirklich wahrgenommen wird. Die aber - sollte die EU ihre Krise(n) überleben - in den nächsten Jahrzehnten die Union dominieren wird.

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