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Kommentar: Europas neue Kluft

Christoph Hasselbach4. November 2014

Frankreich und Italien sind die großen wirtschaftlichen Sorgenkinder Europas geworden. Sie sind in Gefahr, den Anschluss zu verpassen, glaubt Christoph Hasselbach.

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Katainen und Moscovici vor einer Europakarte Foto: Reuters/Y. Herman
Jyrki Katainen (l.) und Pierre MoscoviciBild: Reuters/Y. Herman

Das entscheidende Ergebnis des Herbstgutachtens der EU-Kommission ist nicht die deutlich nach unten korrigierte Wachstumsprognose. Es ist die anhaltende wirtschaftliche Spaltung Europas in Gewinner und Verlierer. Doch der Graben ist nicht unbedingt der gewohnte. Anlass zur Sorge bereiten der Kommission nicht mehr vor allem Griechenland, Spanien oder gar Irland. Irland hat es beim Wachstum sogar an die Spitze der gesamten EU geschafft. Mit Spanien geht es bereits seit einiger Zeit aufwärts. Und auch in Griechenland zeigen sich Lichtblicke.

Nein, die größten Sorgen machen heute Frankreich und Italien, die zweit- und die drittgrößte Volkswirtschaft der Eurozone. Frankreichs Defizit nimmt trotz Sparpaket immer mehr zu und dürfte bis 2016 zum größten der Eurozone anwachsen. Und Italien kommt auch nach Jahren weder aus der Stagnation heraus noch von seinem gigantischen Schuldenberg herunter - dem höchsten in der ganzen EU.

Es geht wohl nicht ohne Druck

Irland oder Portugal standen unter dem Druck der internationalen Geldgeber, zu sparen und sich zu reformieren. Andere Länder wie die baltischen Staaten haben es aus eigenem Antrieb und ohne fremde Hilfe getan. Frankreich und Italien dagegen haben sich ausgeruht, zu ihrem eigenen Schaden. Man muss es so deutlich sagen: Ihnen fehlte der Druck. Denn auch die EU-Kommission, die eigentlich disziplinieren soll, hat sich bei ihnen großzügig gezeigt. Auch die Europäische Zentralbank hat ihnen Luft verschafft. Als Zentralbank-Chef Mario Draghi im Sommer 2012 versprach, alles zu tun, um den Euro zu erhalten und dafür Staatsanleihen überschuldeter Staaten prinzipiell in unbegrenzter Höhe zu kaufen, hatte er die Finanzmarkt-Turbulenzen mit einem einzigen Satz beendet.

Er hat aber auch gesagt, dass er den Problemländern damit die notwendigen Strukturreformen nicht abnehmen könne. Ähnlich sind die Zugeständnisse der Kommission beim Abbau der Defizite gemeint: Die betroffenen Länder sollen etwas mehr Zeit bekommen, ihre Hausaufgaben zu machen, damit sie dann wieder auf Wachstumskurs kommen. Tatsächlich aber scheinen einige Länder die Politik von EZB und Kommission als Hängematte missverstanden zu haben nach dem Motto: Wir können uns die schwierigen Anpassungen sparen, zur Not hauen uns andere immer wieder heraus. Das war es wohl, was Kommissionsvizepräsident Jyrki Katainen meinte, als er bei der Vorstellung der Prognose sagte, die Zugehörigkeit zur Währungsunion habe einigen Ländern "ein falsches Sicherheitsgefühl gegeben".

Christoph Hasselbach Foto: DW/M.Müller
DW-Redakteur Christoph HasselbachBild: DW/M.Müller

Das Alte kommt nicht wieder

Sowohl in Frankreich als auch in Italien ist es bisher weitgehend bei Ankündigungen von Reformvorhaben geblieben. Frankreich muss zum Beispiel dringend seine 35-Stunden-Woche abschaffen und sein Rentenalter anheben; Italien braucht einen offeneren Arbeitsmarkt. Dass solche Reformen politisch heikel sind, bestreitet niemand. Aber es hilft ja nicht, früher oder später werden die Staaten dazu gezwungen werden. Nicht die EU-Kommission oder gar Berlin werden Veränderungen erzwingen, die Globalisierung ist es.

Wo sind die mutigen Politiker, die ihren Wählern reinen Wein einschenken, statt darauf zu hoffen, dass die schöne alte, bequeme Welt von selbst wiederkommt? Sie kommt nicht wieder. Aber die Bevölkerung ist oft weiter als die Politik. Die Menschen sind zu Opfern bereit, wenn sie wissen, dass diese notwendig sind und die Lasten gerecht verteilt werden.

Französisch-finnische Gegensätze

Aufschlussreich bei der Vorstellung der Prognose waren aber nicht nur die Ergebnisse, sondern auch der gemeinsame Auftritt der beiden zuständigen Kommissionsmitglieder. In der neuen Struktur ist Wirtschaftskommissar Pierre Moscovici aus Frankreich als Fachkommissar verantwortlich, der Finne Jyrki Katainen als Vizepräsident steht für das übergeordnete Ressort Arbeitsplätze und Wachstum. Als er jetzt in Brüssel staatliche Wachstumsprogramme für ganz Europa forderte, blieb Moscovici weitgehend bei seiner Rhetorik aus der Zeit, als er sozialistischer französischer Finanzminister war. Er befürchtet, die Menschen könnten am europäischen Projekt "verzweifeln", wenn die Politik nicht für mehr Beschäftigung sorge. Man hätte gern gewusst, ob er dafür auch noch höhere Schulden akzeptieren würde.

Der trockene Finne Katainen dagegen sieht den Ausweg aus der Krise vor allem in Strukturreformen und Wettbewerbsfähigkeit und stellte klar, selbst für Investitionen sollten keine neuen Schulden aufgenommen werden. Politische Ausweglosigkeit gegen rationales Abwägen, staatliche Initiative gegen Eigenverantwortung - unterschiedlicher hätte sich das Duo kaum darstellen können. Der Zuhörer hatte das irritierende Gefühl, dass für die Kommission "irgendwie alles richtig ist". Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker mag mit der neuen Struktur ein System der gegenseitigen Kontrolle beabsichtigt haben. Aber wenn das Ergebnis entweder inhaltliche Beliebigkeit oder gegenseitige Blockade ist, dann wäre die Entscheidung ein Fehler. Dieser erste Doppelauftritt bestätigt eher die Kritiker von Junckers Modell.