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Ferment der Gesellschaft

4. Juni 2015

Der Evangelische Kirchentag ist einmalig für Deutschland. Und beispielhaft für die Rolle, die Kirchen in einer demokratischen Gesellschaft spielen können, meint Christoph Strack.

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Symbolbild Evangelischer Kirchentag 2015 in Stuttgart
Bild: picture-alliance/dpa/W. Kastl

Jahr für Jahr kehren Hunderttausende in Deutschland ihrer Kirche den Rücken. Immer mehr Gotteshäuser werden "umgenutzt". Der Begriff kaschiert dezent, dass man die Gebäude als Kirchen nicht mehr braucht. Man kennt diesen Klagegesang. Er passt, nicht zuletzt, in gesellschaftliche Debatten über die sinkende Bedeutung von Großorganisationen in Deutschland: Gewerkschaften, Parteien und eben die Kirchen.

Aber dann ist wieder Kirchentag. Und das Land staunt über die Menge an Menschen, die da zusammenkommen. Sie sind überraschend jung, engagiert, friedlich, sie haben Träume von einer besseren Welt und nicht selten auch Wut auf realpolitische Strukturen. Bis Sonntag (07.06.2015) sind weit mehr als hunderttausend ganz überwiegend evangelische Christen in Stuttgart zum 35. Deutschen Evangelischen Kirchentag. Kirchentag, das ist das Hochfest des Protestantismus. In diesem Jahr steht er unter dem Leitwort "damit wir klug werden".

Bunt, kritisch und oft auch sehr kontrovers

Natürlich kann man immer lästern über manche Szenen des Treffens. Bunte Tücher und melodiöser Gesang neben Blechgeblase. Erlöste Gesichter. Politische Korrektheit in allen offiziellen Formulierungen. Oder auch: Manches Motto einer Veranstaltung, manche der Aktionen, die sich während dieser fünf Tage präsentieren, hat weder auf den ersten noch auf den zweiten Blick etwas mit Religion zu tun.

Gut so. Denn verantwortliche christliche Existenz hört nicht dort auf, wo der Schatten des Kirchturms endet. Vielleicht fängt sie dort erst an. Christsein bedeutet auch (nach evangelischer Tradition stärker als nach katholischer Tradition), sich in der Gesellschaft zu engagieren und sie zu verändern, Missstände anzuprangern. Genau deswegen ist Kirchentag immer bunt und so laut wie leise, ist er immer auch kritisch und meist auch richtig kontrovers. Das ist eine deutsche Besonderheit. Kein anderes Land Europas kennt in Größe und Dynamik eine solche Präsenz. Nur in Italien steigt alljährlich im August in Rimini ein Großtreffen der katholischen Bewegung "Communione e Liberazione" mit meist über 500.000 Teilnehmern. Es ist fromm und engagiert, aber längst nicht so politisch und basis-lebendig wie ein deutscher Kirchentag. Nein, gar kein Vergleich.

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DW-Hauptstadtkorrespondent Christoph StrackBild: DW

Streiten und dennoch zusammenbleiben

Die Kirchentage machen überdeutlich, dass das vielfältige Engagement aus christlicher Überzeugung nicht nur überkommene Tradition mit erkaltetem Feuer, sondern nach wie vor Ferment der Gesellschaft ist. Dabei steht in Deutschland die gesellschaftliche Rolle von Religion zur Debatte, ihr Anspruch in einer Demokratie, auch die beständige Gefahr von Totalitarismus. Genau deshalb gehören die Buntheit und der auch mal heftige Streit mit zum Kern eines jeden Kirchentages. Man kann über seine jeweilige Religion und seine Vorstellung von Gott miteinander streiten und doch zusammenbleiben - muslimische Verbände könnten da lernen. Pluralismus ist glaubwürdig, und auch der Zweifel.

Die deutschen Medien schauen seit diesem Mittwoch nach Stuttgart und auf die Kirchentagsgäste, die Welt blickt ab Sonntag auf Elmau in den bayerischen Alpen, wo die G7 tagen. Hier sieben im Schloss, ein Gipfel für 130 Millionen Euro. Dort Hunderttausende in Privatquartieren und auf Iso-Matten in Gemeindesälen und Turnhallen für einen Bruchteil der Kosten. Schade, dass Stuttgart die Welt der G7 nicht stärker zum Thema macht.

Politiker treffen auf Mit-Macher

Dabei nimmt sich auch die Bundeskanzlerin Zeit für Stuttgart und für eine Diskussion zur "schönen digitalen Welt". Fast zu jedem Kirchen- und Katholikentag reist Angela Merkel an, auf Stuttgarts Podien reden und diskutieren auch die Mehrzahl der Mitglieder ihres Kabinetts. Das ist gewiss keine Folklore. Wer einmal einen offiziellen Besuch der Kanzlerin in einem Wirtschaftsunternehmen oder Betrieb miterlebt hat, weiß, dass da kein Raum für Spontaneität ist. Beim Kirchentag sind Fragen nicht bis ins Letzte vorgeschrieben, und plötzlich steht auch mal Kritik im Raum. Die Leute wollen vielleicht auch ein Selfie mitnehmen, aber sie wollen auch Kritik loswerden. Politiker zeigen sich da durchaus dankbar. Sie begegnen hier Mit-Machern.

Am ehesten wird der Umgang mit Flüchtlingen zum dominierenden politischen Thema werden. Die kirchlichen Wohlfahrtsverbände, so sagte es kürzlich der deutsche Innenminister Thomas de Maizière, hätten meist entscheidenden Anteil an der Hilfe und Offenheit für Flüchtlinge vor Ort. Nicht wenige Bürgermeister, gerade im Osten Deutschlands, berichten, dass das größte Engagement für Menschen in Not aus Kirchenkreisen komme. Und auf der anderen Seite? Viele Christen sind empört über die Abschottung Europas und das Schachern um Zahlen. Sie wissen von Partnerkirchen in Jordanien und dem Libanon um das Engagement dieser Länder. Gut, wenn aus Stuttgart da eine deutliche politische Mahnung und weitere Signale entschiedener Hilfe kommen.

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