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Kommentar: Frankreichs politischer Alptraum

Alexander Kudascheff26. Mai 2014

Jede vierte Wählerstimme ging an den Front National. Die Partei ist damit die stärkste politische Kraft in Paris geworden. Die Folge, ein Rückzug ins Nationale, ist ein fatales Signal, meint Alexander Kudascheff.

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Alexander Kudascheff DW Chefredakteur Kommentar Bild
Bild: DW/M. Müller

Der Sieg, der nicht mal überraschende Sieg des rechten, des rechtsextremen, des rechtspopulistischen, des rechtsradikalen, des ausländerfeindlichen Front National (FN) in Frankreich ist ein Schock - für Frankreich, für Europa, für die Europäische Union - und darüber hinaus.

Frankreich erlebt ein politisches Erdbeben und durchlebt einen politischen Alptraum. Das Land von Voltaire und Descartes, das Land, das "la clarté", die Rationalität zum Prinzip seiner Gesellschaft gemacht hat, wirft sich in die Arme eines kleinbürgerlichen Aufbegehrens gegen die Globalisierung - und votiert damit auch gegen die Idee eines vereinten Europas.

Desolate Regierung und schwache Opposition

Natürlich hat der Sieg von Marine le Pen, der nicht uncharismatischen, eloquenten, taktisch gerissenen Parteichefin viele Gründe. Die Regierung des Sozialisten Francois Hollande hat in nur zwei Jahren völlig abgewirtschaftet: ökonomisch und politisch. Zwar hat sich der französische Präsident durch sein beherztes und in der Sache nicht ungerechtfertigtes Eingreifen in Mali und in der Zentralafrikanischen Republik innenpolitisch vorübergehend Luft verschaffen können, aber er blieb trotzdem politisch angeschlagen. Die Franzosen vertrauen ihm immer weniger. Er ist der unbeliebteste französische Präsident seit Menschengedenken - auch weil sein Programm schwammig und unkenntlich ist - und er es darüber hinaus immer wieder mutlos ändert. Die Folge: die Sozialisten wurden bei der Europawahl gedemütigt - sie erreichten nicht mal 15 Prozent. Ein Debakel.

Und auch die Opposition ist schwach. Seit Nicolas Sarkozy abgewählt wurde, hat sie sich in Diadochenkämpfen zerstritten. Es fehlt ihr "ein Chef", ein Herausforderer von Hollande, hinter dem sich die Franzosen schon heute versammeln könnten. Kein Wunder, daß die Konservativen zwar besser abschnitten als die regierenden Sozialisten - aber in der Summe auch schwach blieben. Eine attraktive Alternative ist die bürgerliche Opposition für die Wähler zur Zeit nicht. Die Folge: auch die UMP wurde abgestraft.

Rückzug ins Nationale

Das sind die politischen Rahmenbedingungen, unter denen der Front National und Marine Le Pen aufgestiegen sind und gewonnen haben. Aber es gibt noch andere Gründe, die zum erschreckenden Durchbruch des FN geführt haben: ein überdeutlicher Mentalitätswandel der Franzosen. Seit Jahren diskutiert das Land seine traumatische Angst vor "le declin" - vor dem Abstieg. Welche Rolle hat Frankreich noch in der Globalisierung? Welche Rolle spielt Frankreich in Europa, in der EU, in der Deutschland unübersehbar zur scheuen Führungsmacht aufsteigt? Welche historische Mission hat das Land? Welche Zukunft hat die französische Industrie? Und die Antwort lautet resignierend: keine - und deswegen ziehen wir uns nach Frankreich zurück. Frankreich den Franzosen, lautet die Parole des Front National. Frankreich könne nur politisch überleben, wenn es sich auf sich selbst besinnt - und gegen die EU und den Euro wendet. Eine Auffassung, die die äußerste Linke mit der Rechten teilt.

Und mit dieser beschworenen Angst vor dem Abstieg hat le Pen ihre Partei aus der Schmuddelecke geholt, in der ihr Vater sie hineinmanövriert hatte. Sie hat mehr als nur die Resignierten und Enttäuschten an den Rändern angesprochen. Sie hat in weite Teile der Bourgeosie erfolgreich hineingewirkt, sie hat studentische und urbane Milieus ebenso erobert wie auf dem Land gepunktet. Und sie hat auch die bekannten ausländerfeindlichen Ressentiments angesprochen - und damit die verunsicherte Arbeiterschaft in Teilen gewonnen.

Le Pens "wahres Frankreich"

Und man darf nicht vergessen: Frankreich ist im Herzen ein konservatives Land (das gilt auch für die Linke). Nirgendwo in Europa haben mehr Menschen gegen homosexuelle Hochzeiten protestiert als in Frankreich - Hunderttausende, eine Massenbewegung. Das ist "la France profonde", das wahre Frankreich, das Marine Le Pen erfolgreich angesprochen hat. Und damit hat sie ein politisches Erdbeben ausgelöst - mit heute noch unübersehbaren Folgen für Frankreich und für Europa - und aus deutscher Sicht auch für Deutschland. Denn Frankreichs Politik wird sich ändern, nationaler, ja nationalistischer, auf sich selbst bezogener werden. Ein fatales Zeichen - angesichts der geopolitischen Krisen an den Grenzen Europas - von der Ukraine bis nach Afrika.