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Kommentar: Gericht vor gefährlicher Gratwanderung

Peter Philipp19. Oktober 2005

In Bagdad beginnt der Prozess gegen den irakischen Ex-Diktator Saddam Hussein. Die Erwartungen sind hoch. Können sie auch erfüllt werden? Ein Kommentar von Peter Philipp.

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Peter Philipp

Auf diesen Tag haben viele Menschen gewartet: Opfer und Angehörige von Opfern im Irak, Iraner, Kuwaitis, Israelis - um nur einige derer zu nennen, die während der Schreckensherrschaft von Saddam Hussein zu Schaden kamen und gelitten haben. Zehntausende Ermordeter und Hunderttausende Kriegstoter gehen auf das Konto des Diktators, der sich ab Mittwoch (19.10.2005) vor einem Sondergericht in Bagdad zu verantworten hat.

Kein Schauprozess, keine Siegerjustiz. Und dennoch: Das Verfahren gegen Saddam Hussein und einige seiner engsten Weggefährten ist mit Zweifeln behaftet. Und es wird fraglich bleiben, ob es Gerechtigkeit schaffen kann.

Das liegt natürlich in erster Linie an der Monstrosität der Verbrechen. Kann es angesichts dessen Gerechtigkeit geben? Wäre nicht jedes Urteil, wäre nicht jede Strafe zu milde? Wie kann tausendfacher Mord mit einem Todesurteil gesühnt werden? Wie können die Giftgas-Opfer von Halabja, wie die massenweise umgebrachten Schiiten und Kurden gerächt werden?

Kein "kurzer Prozess"

Stimmt: Rache hat nichts mit Gerechtigkeit zu tun. Aber Rache ist es, was die Überlebenden fordern. Das Gericht muss eine gefährliche Gratwanderung unternehmen. Es darf nicht Rache nehmen. Dann wäre der Prozess rasch vorbei und Saddam ein toter Mann. So wie einst Nicolae Ceausescu in Rumänien. Gleichzeitig darf das Gericht sich nicht auf einen zweiten endlosen Prozess wie gegen Slobodan Milosevic einlassen. Das würden die im Irak nicht verstehen, die eine Bestrafung fordern, und jene würden es als Schwäche auslegen, die immer noch zu Saddam halten und das Rückgrat des Widerstandes gegen die Besatzer bilden.

So schwer dies sein mag: Das Gericht muss unter Beweis stellen, dass neue Zeiten im Irak begonnen haben. Dass nicht mehr einfach "kurzer Prozess" gemacht wird, sondern dass Recht und Gesetz herrschen. In einem Land, das einst berüchtigt war für Hamurabis Gesetzesstrenge und zuletzt für Saddams Gesetzlosigkeit. Und in dem heute Terroristen, Aufständische und Besatzer das Sagen haben.

Gerichtsort Bagdad

Das Gericht darf sich auch nicht zum Werkzeug der Besatzer machen. Dann wäre es schon besser, die Amerikaner hätten Saddam selbst den Prozess gemacht. Ein "zweites Nürnberg" wie nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland aber wollte man vermeiden - es hätte zu sehr nach Siegerjustiz ausgesehen. Und internationale Gerichte kamen für den Fall auch nicht in Frage. Also musste der Prozess in Bagdad angesetzt werden.

Angesichts der täglichen Gewalt im Irak ist es kein leichtes Unterfangen. Denn das zwingt dazu, die Öffentlichkeit auszuschließen und selbst die Identität der Richter geheim zu halten. Und man hat einen Fall vorgezogen, bei dem es um 143 Morde geht. Hier glaubt man, Saddam leicht überführen zu können. Wird er hierfür hingerichtet, dann bleibt der Rest im Dunkeln.

Und so bleiben die Fragen: Kann auf diese Weise Recht gesprochen werden? Kann in diesem Fall überhaupt Recht gesprochen werden - von Gerechtigkeit ganz zu schweigen?