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Serbiens neue Führung

Dragoslav Dedovic 1. August 2012

Das Machtgefüge in Serbien hat sich grundsätzlich verschoben. Trotzdem bleibt beinahe alles beim Alten. Vor allem muss das Land jetzt die Finanzkrise bewältigen, und das wird schwer genug, meint Dragoslav Dedovic.

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Die neue Regierung besteht vor allem aus "Reformnationalisten" und erstarkten Sozialisten. Ihr Spielraum ist sehr gering: Zuerst muss sie sich im Verhindern von Katastrophen üben. Der serbische Staat ist fast pleite. Die Beamten-Gehälter für den Monat August und die Renten sind nicht gesichert. Verheerende Jugendarbeitslosigkeit, eine marode Wirtschaft, Überalterung, Armut, allumfassende Korruption - dies ist die Bilanz der achtjährigen Amtszeit des vom Westen sehr geschätzten Premiers Boris Tadić. Doch dem schlitzohrigen neuen Ministerpräsidenten Ivica Dačić wird es kaum weiterhelfen, alles auf die Vorgängerregierung zu schieben, zumal er als Innenminister Mitglied dieser Regierung war. Er wird neue Schulden aufnehmen müssen, wenn er verhindern will, dass sein Auftritt im serbischen Parlament als griechische Tragödie endet.

Innenpolitisch wird er auf eine relativ stabile Mehrheit zurückgreifen können. Die Minister-Mannschaft besteht aus älter und hoffentlich weiser gewordenen Ex-Nationalisten, Überläufern aus der ehemaligen Regierung der Demokraten. Hinzu kommen Machttechnokraten und unterhaltsame Figuren aus unterschiedlichen Parteien, die sicherlich für kabarettistische Einlagen sorgen werden: zum Beispiel der scharfzüngige und aggressive ehemalige Informationsminister unter Milošević, Aleksandar Vučić. Auf sein Konto geht die Verabschiedung eines restriktiven Mediengesetzes, in der Folge wurden 250 Journalisten verhört und fünf zu Gefängnisstrafen verurteilt. Zu Vučićs politischen Freunden gehörte auch der französische Nationalist Jean-Marie Le Pen. Als neuer Verteidigungsminister hat er jetzt eine ganze Armee als Spielzeug. Immerhin gibt er sich seit 2008 pro-europäisch – auf mehr oder weniger glaubwürdige Weise. Das Kräftegleichgewicht zwischen Vučić und Premier Dačić wird das Schicksal dieser Regierung bestimmen.

Doch Dačićs wahre Gegner werden nicht die abgewählten Demokraten sein, sondern zwei Randgruppierungen: Die Radikalreformer unter Cedomir Jovanovićs Liberal-Demokraten sind zu schwach, um mehr zu tun, als bei jedem Reformstau die Probleme zu benennen. Und die europaskeptische Kleinpartei des ehemaligen Ministerpräsidenten Vojislav Koštunica wird bei jeder Gelegenheit laut gegen die EU wettern und dabei leicht antiquiert wirken.

Demokraten müssen Schockstarre überwinden

Eine Zweidrittel-Mehrheit für den EU-Beitritt Serbiens ist in der großen Mitte des Parteienspektrums für Dačić gesichert: Die abgewählten Demokraten haben sogar die europäischen Farben in ihre Parteiflagge übernommen. Der Unterschied zwischen der neuen Mehrheit im serbischen Parlament, der Skupština, und den auf die Oppositionsbänke verbannten Demokraten ist in wesentlichen Fragen kaum mehr wahrnehmbar. Die größte Siegerin, die Fortschrittspartei von Tomislav Nikolić, sowie Dačićs Sozialisten, sind inzwischen nicht mehr authentisch nationalistisch, sondern sozialistisch-populistisch geprägt. Gleichzeitig sind die Demokraten, die einst der 2003 ermordete Ministerpräsident Zoran Djindjić in die sozialdemokratische Internationale führte, inzwischen sowohl ihren Taten als auch ihrem Erscheinungsbild nach neoliberal gefärbt.

Tadić und seine Demokraten sollten jetzt ihre Schockstarre überwinden und ehrlich mit ihren Fehleinschätzungen umgehen. Sie haben eine fast klinisch tote Partei – die Sozialisten – salonfähig gemacht, indem sie 2008 Ivica Dačićs Truppe in die Regierungsverantwortung holten, um sich eine Mehrheit zu sichern. Es war damals von einer "historischen Versöhnung" der halbherzig reformierten und damals marginalisierten Sozialisten mit den Demokraten die Rede, nach dem Motto: "Unser Chef Zoran Djindjić ist tot, euer Chef Slobodan Milošević ist tot - lassen wir unseren Konflikt beiseite". Diese inszenierte Versöhnung, die ohne die Aufarbeitung der Vergangenheit und ohne einen klaren Schlussstrich unter Miloševićs Erbe auskam, kehrt jetzt als politischer Bumerang zurück.

"Großserbien GmbH"

Außenpolitisch herrscht seit diesen Zeiten ebenfalls ein Konsens zwischen den neuen Regierungsparteien und weiten Teilen der Opposition. Sowohl die Parolen "Serbien in die EU" als auch "Kosovo ist Serbien" sind Glaubenssätze der serbischen Politelite. Selbst Ivica Dačić weiß genau, dass diese außenpolitischen Ziele früher oder später miteinander kollidieren werden. Aus dem einst besten Studenten der politischen Wissenschaften in Belgrad und dem jungen, zynischen Pressesprecher von Miloševićs Sozialisten ist inzwischen ein mit allen Wassern gewaschener, taktisch geschickt agierender Politiker geworden. Er versucht, diesen Zusammenprall hinauszuzögern, in der Hoffnung, dass der Westen eine eventuelle Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo durch Serbien zumindest symbolisch honorieren wird. Die Nachbarländer Kroatien und Bosnien-Herzegowina werden ganz genau beobachten, wie die Repräsentanten der kriegerischen Politik Serbiens aus den 1990er Jahren als bekennende Europäer tatsächlich in der Region agieren. Ob es der neuen Regierung in Belgrad gelingt, eine substantielle Versöhnung auf dem westlichen Balkan zustande zu bringen, bleibt abzuwarten.

Bis 2008 hieß das Parteiblatt des neuen Präsidenten Serbiens, Tomislav Nikolić, "Großserbien". Laut einer Erklärung, die er bei der Übernahme des Präsidentenamts abgeben musste, besitzt er immer noch die Aktien der Verlagsfirma seiner ehemaligen Partei. Die Firma heißt "Großserbien GmbH". Mag sein, dass es sich dabei um die folkloristischen Spuren einer aufgegebenen Politik handelt, aber die Geschäfte der Firma laufen anscheinend immer noch gut.

In Serbien laufen die Geschäfte dagegen ziemlich schlecht. Die erste Regierungserklärung lässt vermuten, dass die angekündigte Haushaltssanierung mühsam und von ungewissem Ausgang sein wird. Ausgleichende Gerechtigkeit mit Blick auf die jüngste Geschichte des Landes: Premier Dačić, der ehemalige Schützling Miloševićs, und Staatspräsident Nikolić, ehemaliger Stellvertreter des nationalistischen Hasspredigers Vojislav Sešelj, dem seit Jahren in Den Haag der Prozess gemacht wird, haben die Ehre, durch ihr politisches Handeln das großserbische Projekt offiziell als gescheitert zu erklären. Es war ein für Serbien und seine Nachbarländer verheerendes Projekt, das die beiden Politiker einst mit ins Leben gerufen haben.