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Gerüchte statt Analyse

26. November 2009

Auch für die Medien in Indien und Pakistan war der Angriff eine schwere Prüfung, die sie sie nicht bestanden haben. Mit Gerüchten und Hysterie brachten sie die Erzfeinde an den Rand eines Krieges, meint Grahame Lucas.

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Bild: DW

Der Angriff auf Mumbai führte die elektronischen Medien in Indien auf unbekanntes Terrain: Wie reagiert man auf den größten Terroranschlag im eigenen Land, der drei Tage dauert und Dutzende von Menschen das Leben kostet? Wie reagiert man auf einen Anschlag, der noch bevor er vorbei war, in die Chronik als 26/11 einging?

Die in den 1990er Jahren vollzogene Liberalisierung des Rundfunkwesens in Indien hat zur Gründung von über 500 privaten TV-Kanälen geführt. Viele davon sind Nachrichtensender, die 24 Stunden am Tag senden. Der Konkurrenzkampf ist intensiv und unerbittlich. Die Abhängigkeit von Werbung ist hoch, qualifizierter Nachwuchs fehlt.

Sachliche Information: Mangelhaft

DW-Experte Südasien Grahame Lucas
Südasien-Experte Grahame LucasBild: DW

Konfrontiert mit diesem Anschlag auf die Finanzmetropole des Landes, schafften es die meisten Nachrichtensender nicht, die Öffentlichkeit mit einer sachlichen und faktengetreuen Berichterstattung zu versorgen. Die meisten sendeten stundenlang Live-Bilder des Grauens. Im Mittelpunkt Bilder der Sterbenden und unzählige Leichen. Auch strategische Planungen der Behörden und Sicherheitskräfte wurden einfach ausgeplaudert. Selten wurden die Ereignisse sachlich eingeordnet oder sinnvoll analysiert. Nachrichtenredakteure wurden mit Anweisungen aus der Chefetage konfrontiert. Dort hieß es oft, sie möchten an die Quote denken, damit die Werbeeinnahmen stimmen. Der Tagesbefehl lautete "die Kamera drauf halten".

Ethische Gesichtspunkte wurden vollends beiseite geschoben. Schließlich kannte man den Schuldigen: den alten Erzfeind Pakistan. Zunächst sprachen die Medien nur davon, dass die Anschläge von pakistanischem Grund und Boden geplant worden seien. Schnell machten aber Gerüchte die Runde, dass auch die pakistanische Regierung und der pakistanische Geheimdienst hinter dem Drama stecken könnten. Daher behaupteten einige indische Journalisten schon während der ersten Phase des Angriffs frei, Islamabad stehe hinter den Angriffen. Unbestätigte Quellen und Gerüchte wurden zitiert, um diese Behauptungen zu untermauern.

Hysterie bei den Erzfeinden

Die Berichterstattung baute einen unglaublichen Druck auf die Regierung auf. Innerhalb von Stunden war die öffentliche Empörung so groß, dass die Nuklearmächte Indien und Pakistan am Rande einer kriegerischen Auseinandersetzung standen.

Auf der anderen Seite reagierten die elektronischen Medien in Pakistan, die erst 2004 liberalisiert wurden, genauso hysterisch. Ihr Land stand ja am Pranger. Sie leugneten nachhaltig jegliche Beteiligung Pakistans und hatten auch schnell einen eigenen Schuldigen ausgemacht: den indischen Geheimdienst, der - wie immer - nach Gründen für einen Krieg gegen Pakistan suche. Wie in Indien siegte der Drang zur sensationellen Berichterstattung. Eine Diskussion über die Aktivitäten der Terrorgruppe Lashkar-e-Taiba und des militärischen Geheimdienstes (ISI) wurde nicht vertieft. Die notwendigen Konsequenzen nicht öffentlich erörtert. Die wenigen Journalisten, die sachlich über das Thema berichten, hatten es schwer, sich Gehör zu verschaffen.

Auch ein Jahr später hat sich nichts geändert

Ein Jahr später ist die Bilanz der Medien in Indien und Pakistan ernüchternd. Sie haben es nicht geschafft, die anhaltende Diskussion über den Angriff auf Mumbai zu versachlichen. Aufgrund dieser Entgleisung hat die indische Regierung mehrfach mit Zensur gedroht, wenn wie im Fall des Anschlags von Mumbai eine Bedrohung der nationalen Sicherheit besteht. Letztendlich kam es aber nicht zu einer Einschränkung der Pressefreiheit. Wahrscheinlich nur deshalb, weil die Regierung die Hilfe der Medien im Propagandakrieg gegen Pakistan braucht.

Geblieben ist eine Selbstverpflichtung der Medien, bei solchen Situationen die Regierung zu konsultieren und die Berichterstattung abzustimmen. Damit dürften beide Seiten zufrieden sein. Die Berichterstattung über den Prozess gegen den mutmaßlichen Mumbai-Attentär lässt den Schluss nicht zu, dass die Medien in Indien vorhaben, den Sensationalismus gegenüber Pakistan abzuschwören. Im Gegenteil. Und auch jenseits der Grenze in Pakistan waschen die Medien die Hände der Nation weiter in Unschuld. Ganz im Sinne der Regierung.

Dass der durch Mumbai unterbrochene Friedensprozess nicht wieder in Gang kommt, hat daher viel mit der öffentlichen Meinung in beiden Ländern zu tun. Eine Medienkultur der gegenseitigen Beschuldigungen hat sich weiter verfestigt. Unzählige Talkshows in Fernsehen und Radio diskutieren nach wie vor mit ehemaligen Armeeoffizieren und angeblichen Sicherheitsexperten über die Bedrohung jenseits der Grenze. Der Drang zum Sensationalismus hat die Oberhand behalten. Die Quote ist alles. Kaum einer will einsehen, dass das mittelfristige Ziel nur bessere journalistische Standards für die Medienindustrie in beiden Ländern und eine verbesserte Ausbildung für Nachwuchsredakteure sein kann.