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Oettinger vergreift sich im Ton

4. Januar 2016

Mit allzu scharfer Kritik an der polnischen Regierung erreicht man das Gegenteil, vor allem, wenn sie aus Deutschland kommt. In Brüssel ist daher Fingerspitzengefühl gefragt, meint DW-Redakteur Christoph Hasselbach.

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Polnische, EU-Flagge (Foto: picture-alliance/B. Schleep)
Bild: picture-alliance/B. Schleep

Noch ist es kein Vertragsverletzungsverfahren. Und die "Atombombe", der Entzug des polnischen Stimmrechts, soll ohnehin niemals gezündet werden. Aber selbst scharfe Drohungen Richtung Warschau sollten sich europäische Politiker gut überlegen.

Es gibt hier lehrreiche Erfahrungen. Nachdem sich in Österreich im Jahr 2000 eine Koalition der konservativen Volkspartei, ÖVP, zusammen mit der rechtspopulistischen Freiheitlichen Partei gebildet hatte, gingen die Regierungen der übrigen damals 14 EU-Regierungen auf Distanz zu Wien. Bilaterale politische Kontakte mit der österreichischen Regierung wurden unterbrochen. Damals war nicht die Kommission der Akteur, sondern die Einzelstaaten, und diese vermieden peinlich das Wort "Sanktionen".

Doch der damalige ÖVP-Bundeskanzler Wolfgang Schüssel stellte die Maßnahmen bewusst als Angriff auf das gesamte Land und seine Bewohner dar. In der Folge solidarisierten sich selbst viele Gegner der rechtspopulistischen FPÖ mit der Koalitionsregierung. Die Maßnahmen stellten sich als kontraproduktiv heraus. Nach rund einem halben Jahr normalisierten die EU-Staaten die Beziehungen zu Wien dann still und heimlich, ohne politisch irgendetwas erreicht zu haben.

Orban sieht sein Land als Opfer

Noch naheliegender ist der Vergleich mit Ungarn: Die dortige nationalkonservative Fidesz-Regierung ging seit 2010 daran - so wie die polnische Regierung heute - sich Medien und Justiz gefügig zu machen. Die EU-Kommission leitete ein Vertragsverletzungsverfahren ein - und tatsächlich gab Ministerpräsident Viktor Orban am Ende nach.

Christoph Hasselbach (Foto: DW/M.Müller)
DW-Redakteur Christoph HasselbachBild: DW/M.Müller

Doch es ist bis heute bei eher kosmetischen Nachbesserungen geblieben, die immer gerade so weit gingen, bis Brüssel keine formellen Einwände mehr erheben konnte. Am Geist von Orbans Politik hat sich nichts geändert. Und innenpolitisch schaffte es Orban, sein Land zum Opfer einer ausländischen Einmischung zu stilisieren. Die Unterstützung für seine Politik ist seitdem eher noch größer geworden.

Im Fall Österreichs standen 14 Regierungen gegen eine. Auch Budapest war 2010 noch ziemlich isoliert. Davon kann heute keine Rede mehr sein. Nationalismus und eine autoritäre Politik sind überall in Europa und besonders in seiner östlichen Hälfte auf dem Vormarsch, vor allem seit Beginn der Auseinandersetzungen um die Flüchtlingspolitik. Wer jetzt aus Brüssel oder aus westlichen Hauptstädten die polnische Regierung polternd zum Spuren auffordert, wird desto mehr Ablehnung ernten und die Zerrissenheit Europas vertiefen.

Eindruck deutscher Bevormundung

Zurückhaltung sollte sich erst recht EU-Mitglied Deutschland auferlegen. Erstens, weil das polnisch-deutsche Verhältnis, ähnlich wie das israelisch-deutsche, aus historischen Gründen belastet ist. Und zweitens, weil Polen als großes Nachbarland im Osten eine besondere Bedeutung für Deutschland hat.

Zudem symbolisiert das bilaterale Verhältnis im Moment die europäische Spaltung, die es zu überwinden gilt. Diese Zurückhaltung sollte auch für Günther Oettinger gelten. Als EU-Kommissar spricht er zwar nicht für sein Herkunftsland, sondern repräsentiert die ganze EU. In Polen wird er aber mit Deutschland in Verbindung gebracht. Wenn Oettinger die polnische Regierung "unter Aufsicht" stellen will, kann das in Polen nur als "deutscher" Versuch einer Bevormundung verstanden werden.

So erreicht man das Gegenteil des Gewünschten. Das ist besonders unglücklich, weil es in Polen im Gegensatz zu Ungarn eine Menge Widerstand gegen die Politik der Regierungspartei PiS gibt. Viele Polen haben die PiS nicht wegen, sondern trotz deren Gleichschaltungsversuchen gewählt. Nun wurden sie zum Teil von diesen überrumpelt und sind empört.

Ja, die Kommission muss für die Einhaltung der Grundwerte in allen Mitgliedsstaaten sorgen. Doch gerade in der momentan angespannten europäischen Situation ist von allen politischen Akteuren Fingerspitzengefühl gefragt.

Christoph Hasselbach
Christoph Hasselbach Autor, Auslandskorrespondent und Kommentator für internationale Politik