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Reaktionär? Nein danke! Konservativ? Ja bitte!

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp
20. März 2016

Die Wahlerfolge der AfD haben viel bewirkt - unter anderem werfen sie die Frage nach der Grenzziehung zwischen konservativ und reaktionär auf. Die lässt sich eigentlich schlüssig beantworten, meint Kersten Knipp.

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Das Deutsche Nationaltheater in Weimar, im Vordergrund das Goethe-Schiller-Denkmal. (Foto: Martin Schutt dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

Was ist deutsch? Nicht zuletzt die Wahlerfolge der AfD haben dieser Frage in den vergangenen Tagen neue Dringlichkeit gegeben. Besondere Prominenz erfuhr der AfD-Landesverband Sachsen-Anhalt, der in seinem Wahlprogramm auch seine kulturpolitischen Vorstellungen umriss. Die Bühnen des Bundeslandes, heißt es dort, sollten neben internationalen (klassischen) Werken stets auch klassische deutsche Stücke spielen - "und sie so inszenieren, dass sie zur Identifikation mit unserem Land anregen."

Was ist deutsch? Ist Wagner, der Meistersinger der germanischen Mythologie, deutscher als Robert Schumann, der Klangkünstler einer zerbrechlichen Innerlichkeit? Ist Goethe, der souveräne Großmeister der Klassik, deutscher als Heiner Müller, der Dichter postmoderner Dissonanz?

"Stürzen wir nicht fortwährend?"

Es führt nicht sehr weit, deutsche Kultur zu Identifikationszwecken nutzen zu wollen. Im Gegenteil: Der Versuch ist absurd. Er verwandelt die einmal als "deutsch" (v)erklärte Kultur in einen Fetisch. Was aber ist Kultur, wenn nicht die Kunst des Zweifelns? Kultur auf das Podest des Nationalen heben zu wollen, ist ein Widerspruch in sich selbst, ja mehr noch: Es ist reaktionär.

Das gilt gerade in Momenten der Krise. Derzeit durchläuft Deutschland eine seiner größten Krisen überhaupt, mitausgelöst durch die massenhafte, ungeregelte Zuwanderung. Wie die ausgeht, ist nicht einmal im Ansatz ausgemacht. Eines ist aber klar: Kulturelle Fetischismen tragen zu ihrer Lösung nicht bei. "Stürzen wir nicht fortwährend?" schrieb Friedrich Nietzsche 1882 in seiner "Fröhlichen Wissenschaft" und umriss damit konzis die Signatur seiner Zeit: einer Zeit, die bis heute im Stürzen begriffen ist.

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DW-Autor Kersten Knipp

Der dauernde Sturz - derzeit vor allem derjenige der Grenzen - macht momentan nicht wenige Bürger nervös. Reaktionäre Antworten helfen aber nicht weiter. Bestenfalls führen sie ins Reich der imaginären Gemeinschaft. Die ist freilich nur um den Preis des Abschieds von der Wirklichkeit zu haben.

Leider fallen derzeit auch die als liberal gepriesenen Antworten nicht sonderlich überzeugend aus. Niemand werde hängen gelassen, heißt es zwar. Dass es tatsächlich so kommen wird, ist bislang aber noch nicht erwiesen. Liberal sich gebende Politik ist derzeit sehr, sehr kühn.

Konservativ mit Marx und Engels

Darum wäre es eigentlich an den Konservativen, den Wandel zu managen. Das Problem ist nur, dass es Konservative kaum mehr gibt, jedenfalls nicht an relevanter Stelle. Dabei müsste es sie geben, gerade jetzt.

Denn eine konservative Politik auf der Höhe ihrer Zeit denkt die Auswirkungen des fortwährenden Sturzes immer mit. "Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht", heißt es in einer klassisch gewordenen Studie westlicher Beschleunigungsprozesse, dem "Kommunistischen Manifest" von Karl Marx und Friedrich Engels. Kluge Konservative preisen diese Diagnose als eine der hellsichtigsten überhaupt.

Sie bedenken allerdings auch den Stress mit, den diese Verdampfungsprozesse auslösen. Auf die Gegenwart bezogen heißt das: Sie nehmen Menschen ernst, die sich durch die Zuwanderung nicht nur verunsichert, sondern sogar sozial bedroht fühlen. Denn sie erkennen, nicht ohne Sorge, dass der Nationalstaat in Auflösung begriffen ist - einer politischen Ordnung immerhin, in der die Deutschen, wie die meisten Europäer, die vergangenen anderthalb Jahrhunderte gelebt haben. Sich an dessen zügig voranschreitende Auflösung zu gewöhnen, ist keine Kleinigkeit.

Tempolimit

Sollen auch die Zaghaften den Umstand verdauen, dass das Deutschland von morgen ein anderes ist als das von heute, müssen diese Umbrüche langsam geschehen, auch und gerade, was die Zuwanderung angeht. Es ist darum gut, dass ihr derzeit das Tempo genommen wird.

Das hat nichts mit reaktionärer Deutschtümelei zu tun. Sondern mit der gerade Konservativen vertrauten Einsicht, dass Veränderungen ihre Zeit bauchen. Verdampfen die Dinge zu schnell, wird es leicht sehr, sehr heiß. Wer das nicht erkennen will spielt der reaktionären Versuchung zu.

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Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika