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Russland, die Türkei und der Kolonialismus 2.0

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp
5. Dezember 2015

Die Konfrontation zwischen Russland und der Türkei geht auch auf alte imperiale Reflexe zurück. Starkes Geltungsbedürfnis bestimmt den Kurs beider Seiten. So schaden sie weiter der ganzen Region, meint Kersten Knipp.

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Putin und Erdogan in Sotschi - Foto: picture-alliance/dpa/dpaweb
Von der einstigen harmonischen Idylle ist derzeit bei Putin und Erdogan nichts zu spürenBild: picture-alliance/dpa/dpaweb

Phantomschmerzen sind ein tückisches Phänomen. Vor allem sind sie unberechenbar. Mal treten sie direkt nach dem Verlust eines Körpergliedes auf, mal erst geraume Zeit später. Und es kann lange dauern, bis sie wieder abklingen. Rechnet man Phantomschmerzen einzelner Menschen auf die ganzer Gesellschaften hoch, bekommt man eine Ahnung davon, wie lange sie dort, im kollektiven Unterbewusstsein, anhalten können. Der Zusammenprall zweier ehemaliger Großmächte, Russlands und der Türkei, gibt nun eine Ahnung davon, über welch gewaltige Zeiträume die eingebildeten Schmerzen anhalten können. Und es scheint, als könnten sie die, die an ihnen leiden, beinahe in den Wahnsinn treiben.

Schmerz aus alter Zeit

Russland etwa, dessen Präsident Wladimir Putin den Zerfall der UdSSR einmal als größte geopolitische Katastrophe bezeichnete. 1991 brach der russische Imperialismus zusammen, die eingesammelten Satellitenstaaten stoben davon in alle Richtungen. Seitdem ist Russland nur noch Russland - und längst kein Großreich mehr. Den Präsidenten schmerzt es bis heute.

Diesen Schmerz teilt er mit dem späten Erben einer anderen ehemaligen Großmacht, dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Er beklagt Verluste, die noch weiter zurückliegen - nämlich fast hundert Jahre, als das Osmanische Großreich, einer der Verliererstaaten des Ersten Weltkriegs, von den Siegermächten auf einen Bruchteil seiner ehemaligen Ausdehnung beschnitten wurde. Die alte Größe ist weg. Doch der alte Geist lebt weiter. "Wir sind bewegt vom Geist, der das Osmanische Reich gründete", erklärte Erdogan im November 2012.

Hoher Einsatz

Ist es auszuschließen, dass der Phantomschmerz beiden Staatsoberhäuptern das Handeln diktiert? Der Abschuss des russischen Kampfjets vor einigen Tagen lässt genau das vermuten. Dies umso mehr, als er vor historisch einst angespannter Kulisse stattfand. Russland und die Türkei waren früher Erzrivalen. Und Iran, Afghanistan, der Balkan und die Region um das Schwarze Meer bildeten die Spielmasse, um die sie miteinander rangen. Dieser Tage nun geht es in die Fortsetzung: Russland ist im Schulterschluss mit Iran auf militärischem Expansionskurs, die Türkei geht in die Defensive: Sie will zumindest ihre Grenzen aus den 1920er Jahren halten, nicht erleben müssen, dass irgendwann auch noch die Kurden qua Staatsgründung die alte Osmanische Erbmasse verkleinern.

DW-Experte Kersten Knipp - Foto: DW
DW-Experte Kersten Knipp

Der Einsatz ist für beide Seiten hoch. Und darum geht auch die Türkei nun in die Offensive. Es dürfte kein Zufall sein, dass der Stellvertreterkrieg zwischen Russland und der Türkei sich besonders auf die Region von Bayirbucak im Nordwesten von Syrien konzentriert. Denn die dort lebenden Turkmenen bilden aus großtürkischer Perspektive einen geostrategischen Brückenkopf Richtung Istanbul. Genau diese türkische Einflusssphäre will das Regime von Baschar al-Assad für das nach Kriegsende verbleibende Rumpf-Syrien unbedingt verhindern. Deswegen bekämpft es unter russischem Feuerschutz die dort lebenden (und ihrerseits kämpfenden) Turkmenen mit aller Kraft. Geht die Rechnung der Russen auf, dürften auch sie am Ende größeren Einfluss in der Region haben.

Ein neues "Great Game"?

Mit anderen Worten: Nach dem Kolonialismus ist vor dem Kolonialismus. Die Leidtragenden sind weiterhin die Syrer, die vor Assads Brandbomben ebenso wie vor den Messern der IS-Schergen fliehen. Dass diese es ernst meinen mit ihrer Namensänderung, nicht mehr bloß ein "Islamischer Staat im Irak und Großsyrien", sondern ein "Islamischer Staat" ohne jede Grenzen sein wollen, haben sie durch die Attentate der letzten Wochen eindrücklich bewiesen. Damit erinnern sie auf zynische Weise daran, dass der Kolonialismus ein riskantes Unternehmen ist, in modernen ebenso wie postmodernen Zeiten.

Das lässt nur hoffen, dass die realen Schmerzen bald stärker als die Phantomschmerzen werden. Dann könnte sich rumsprechen, dass das "Great Game" des 19. Jahrhundert keine Neuauflage verträgt. Wichtiger - das könnte sich dann ebenfalls rumsprechen - ist eine gemeinsame Front gegen den Terror: den des syrischen Diktators ebenso wie den der dschihadistischen Geister, die er vor einigen Jahren aus der Flasche ließ.

Wie sehen Sie den aktuellen Konflikt zwischen Russland und der Türkei? Kann die Gefahr, die vom gemeinsame Feind IS ausgeht, Putin und Erdogan zur Räson bringen? Wir freuen uns auf Ihre Meinung!

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika