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Kommentar Weltmeister

Volker Wagener15. Juli 2014

Der vierte Stern auf dem Trikot: Der WM-Titel krönt den deutschen Fußball. Doch der Triumph von Rio ist weit mehr: So, wie er errungen wurde, steht er symbolisch für das moderne Deutschland, findet Volker Wagener.

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Weltemeister Feier Berlin 15.07.2014 Philipp Lahm mit dem WM-Pokal
Bild: picture-alliance/dpa

Flanke Schürrle, Brustannahme Götze in vollem Lauf, Schuss noch im Sprung, ins lange Eck, Tor. Der Sieg! Der Weltmeistertitel! Kluge Menschen, die sich mit Fragen beschäftigen, wer wir sind, woher wir kommen und warum wir sind, wie wir sind, werden es vermutlich in einigen Jahren bestätigen: Dieser emotionale Urknall von Rio hat Deutschland verändert, ein bisschen wenigstens. Er hat ein Ausrufezeichen gesetzt. Nicht nur fußballerisch. Das ganze Deutschland steht im Fokus. Die Wahrnehmung von uns Deutschen im Ausland hat sich geändert. Wir kommen gut an und merken das nun mit reichlicher Verzögerung. Wir bekommen eine Vorstellung von dem, was wir sein wollen, sein könnten.

Die Last der Geschichte

Lange waren wir fast nur mit dem befasst, was wir nicht sein wollten. Außenpolitisch wollten wir vor allem nicht auffallen. Wir blieben historisch bedingt die Juniorpartner unserer westlichen Partner. Manchmal fast haltungslos. Wir orientierten uns an Negationen: Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus, nie wieder Auschwitz. Schwarz-Rot-Gold und Nationalhymne waren für breite Schichten der Enkelgeneration der Täter peinlich, mindestens aber uncool. Die Wegmarken deutscher Politik waren in den zurückliegenden Jahrzehnten allesamt späte Antworten auf eine fürchterliche Vergangenheit. Willy Brandts Warschauer Kniefall, Helmut Kohls Händchenhalten mit Francois Mitterrand, Weizsäckers 8. Mai-Rede. Selbst der Mauerfall war eine überfällige Korrektur der Geschichte.

Wir werden erwachsen

Doch es hat sich etwas geändert. Die politisch-historische Verkrampfung löst sich auf. Deutschland übt sich in einer eigenen Außenpolitik. Nicht mehr verstecken, Haltung zeigen, ja sogar Führung übernehmen. Belege? Im Euro-Krisenmanagement liegt die Hauptlast auf Angela Merkels Schultern. Frankreich schwächelt, die Achse Paris-Berlin wird vor allem von Deutschland in Bewegung gehalten. In Brüssel ist die Kanzlerin heimliche Königin von Europa und in der russisch-ukrainischen Krise hat Merkels Wort bei Putin Gewicht - weit mehr als das Obamas.

Und selbst die handzahme, fast devote Haltung Berlins gegenüber dem großen Bruder aus Washington scheint nun endlich aufzuweichen. Erst wenige Tage ist es her, dass Angela Merkel den obersten US-Geheimdienstchef in Deutschland aus dem Land schickte. Die Welt stutzt und staunt. Die Deutschen machen Ernst. Lassen sich nicht mehr alles gefallen. Partnerschaft mit den USA wird derzeit neu definiert. Das Anpacken von heißen Eisen, es passiert gerade.

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DW-Redakteur Volker WagenerBild: DW

Deutschland erfindet sich neu

Der Sieg von Bern 1954 gilt vielen als eigentliche Gründung der Bundesrepublik, der Titel 1974 passte als Schlusspunkt der Ära Brandt, in der mehr Demokratie gewagt wurde. Der WM-Sieg von 1990 war ein Erfolg des Willens und kam der der deutschen Einheit nur wenige Monate zuvor. Die großen Fußball-Trophäen waren immer auch Metaphern für deutsches Lebensgefühl, Duftmarken für das, was wir sein wollten. Und jetzt die Riesen von Rio.

Deutscher Fußball, Jogis Jungs stehen für ein sympathisches Deutschland. Ein gereiftes Land, das niemand mehr fürchtet. Eine Mannschaft, die im Erfolg respektvoll mit den Unterlegenen umging. Engländer, Brasilianer, Chinesen sind unsere Zeugen. Mitreißend im Spiel und bescheiden im Erfolg. Die Art und Weise, wie der vierte Stern erobert wurde, könnte Deutschland und den Deutschen eine Idee von dem geben, was sie sein wollen. Ein Sympathieträger in der Welt. Und zu Hause? Noch nie war die Identifikation der Deutschen mit ihrer Nationalmannschaft so groß wie heute. Der Fußball ist Deutschlands größtes Sozialkapital, der Kitt, der die Gesellschaft zusammenhält.