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Zu viel Geduld mit Nigeria?

Jan-Philipp Scholz23. Juli 2014

Vor 100 Tagen entführte die Terrorgruppe Boko Haram mehr als 200 Schülerinnen. Trotz einer emotionalen Medienkampagne blieb die Suche erfolglos. Doch das ist nicht der eigentliche Skandal, meint Jan-Philipp Scholz.

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Ein Boko Haram-Video ziegt die entführten Mädchen (Foto: Balkis Press/ABACAPRESS.COM )
Bild: picture alliance/abaca

Sie sind schwer erträglich, die Zyniker und Berufspessimisten, die schon von Anfang an wussten, dass dieser ganze emotionale Aufschrei mal wieder nichts bringen würde - und dass solch ein Drama auf dem Krisenkontinent Afrika kein gutes Ende nehmen könne. Noch schwerer erträglich ist allerdings: Sie hatten Recht - zumindest auf den ersten Blick. Seit 100 Tagen sind mehr als 200 Mädchen in der Gefangenschaft von Boko Haram, einer der weltweit grausamsten Terrororganisationen. Schülerinnen, deren einziges Verbrechen es war, dass sie etwas aus ihrem Leben machen wollten.

Das Drehbuch, welches auf die Entführung der Mädchen folgte, ist altbekannt. Erst einmal passierte: gar nichts. Denn das Verbrechen ereignete sich in einem Dorf irgendwo im ländlichen Nordosten des Landes, einer Region, die seit jeher vernachlässigt wird und kaum jemanden interessiert - weder innerhalb Nigerias noch außerhalb. Nach ein paar Wochen veröffentlichte die Terrorsekte, mediale Mechanismen gut vorausahnend, ein kaum erträgliches Video: Die gefangenen Mädchen wurden - demütig und verängstigt - der Öffentlichkeit vorgeführt. Bereits zuvor hatte Boko Harams Anführer Abubakar Shekau erklärt: Wir werden sie als Sklaven verkaufen!

Die Elite kam in Zugzwang

Es folgte eine weltweite Solidaritätskampagne über Soziale Netzwerke, in der sich auch ehrlich mitfühlende Prominente wie Michelle Obama einmischten. Völlig richtig! Denn nun wurden auch die etablierten Medien darauf aufmerksam, schickten unzählige Reporter in die Region. Sie produzierten hoch emotionale Geschichten über Angehörige und Betroffene. Völlig richtig!

Einige Länder, darunter die USA, Frankreich und Israel, schickten nun Elitesoldaten, um bei der Suche nach den Mädchen zu helfen. Auch das war völlig richtig - denn plötzlich kam auch die seit jeher abgestumpfte und selbstsüchtige politische Elite Nigerias in Zugzwang. Präsident Goodluck Jonathan musste sein Mitgefühl zumindest heucheln, kritische Fragen ertragen und politische und militärische Antworten finden. "Business as usual" war nun nicht mehr möglich.

DW-Redakteur Jan-Philipp Scholz
Bild: DW/M. Müller

Auch 100 Tage nach ihrer Entführung sind die Mädchen weiterhin in Gefangenschaft der Kidnapper. Das alleine ist noch kein Skandal. Inzwischen ist es ein offenes Geheimnis, das die Aufenthaltsorte der Mädchen in Sicherheitskreisen bekannt sind. Doch angesichts des Szenarios - hunderte Mädchen bewacht von wahrscheinlich noch weitaus mehr schwerbewaffneten Terroristen - herrscht Ratlosigkeit beim weiteren militärischen Vorgehen.

Wo bleibt die gerechte Verteilung?

Und auch politische Verhandlungen mit Terroristen sind ein hoch komplexes Thema, welches nicht in die Öffentlichkeit gehört. Das ist verständlich. Verständlich ist auch, dass die mediale Aufmerksamkeit mit der Zeit nachgelassen hat - der Nahostkonflikt, die Ukrainekrise und die terroristischen Aktivitäten in der arabischen Welt sind genauso wichtige Themen.

Der eigentliche Skandal ist, dass diese Entführung überhaupt passierte - und dass Boko Haram seitdem Hunderte weitere unschuldige Männer, Frauen und Kinder entführen, töten und verletzten konnte. Denn an den nigerianischen Kernproblemen hat sich auch 100 Tage nach der Entführung nicht das Geringste verändert: Weiterhin versagt der nigerianische Staat auf allen Ebenen dabei, den Ölreichtum des Landes zumindest ein wenig gerechter zu verteilen. Weiterhin fliehen die einfachen Soldaten vor Kämpfern der Boko Haram, weil militärische Gelder in den Taschen korrupter Generäle landen, anstatt in die Ausrüstung der Truppe zu gehen. Und weiterhin schaut der Westen bei dem Treiben weitgehend tatenlos zu.

Seit dem Abschuss der Passagiermaschine über der Ostukraine wird viel über mögliche Verschärfungen von Sanktionen gegen Russland diskutiert - offensichtlich geht dem Westen langsam die Geduld mit der Regierung in Moskau aus. In Nigeria bekommen viele namhafte deutsche Firmen jedes Jahr Großaufträge in Millionenhöhe - zusätzlich flossen letztes Jahr 25 Millionen Euro deutscher Entwicklungshilfe in das Land. Warum ist man hier eigentlich so viel geduldiger?