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Kompromisse

Alexander Kudascheff11. November 2002

Der Gipfel der Europäischen Union mit Russland hat stattgefunden - das allein ist bei allen Verstimmungen schon ein Erfolg. Beide Seiten haben sich bewegt, meint Alexander Kudascheff in seinem Kommentar.

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Das Tschetschenien-Problem lastet auf den Beziehungen der Europäer zu Putin. Die ständige Verletzung von Menschenrechten, auch das tägliche Drangsalieren der Zivilbevölkerung verstört die Europäer und belastet durchaus ihr Gewissen. Andererseits sind die Europäer auch pragmatische Realpolitiker. Sie wissen, dass der Krieg in Tschetschenien ein russisches Problem ist. Sie unterstützen Putins unbedingten Willen im Kampf gegen den Terrorismus, mahnen allerdings an, dass die Mittel verhältnismäßig eingesetzt werden müssen. Und sie spüren, dass der russische Präsident im Kampf gegen den tschetschenischen Terrorismus die überragend große Mehrheit der Russen hinter sich weiß - nicht erst seit der Geiselnahme am 26. Oktober, seitdem aber ganz bestimmt.

So lavieren die Europäer zwischen schlechtem Gewissen und der Einsicht, dass man im Kampf gegen den Terrorismus entschieden vorgehen muss. In einem Punkt aber setzen sie sich deutlich von Putins Kurs ab. Sie glauben, dass der Tschetschenien-Konflikt politisch gelöst werden muss, weil sich dahinter ein politisches Problem verbirgt: Die Tschetschenen wollen Freiheit, sie wollen Autonomie, sie wollen vielleicht sogar einen eigenen Staat, streben die Sezession von Russland ab, was für Moskau unannehmbar ist.

Die Zauberformel der Europäer heißt da: Autonomie, weitreichende regionale Autonomie für die Tschetschenen. Doch soweit ist es nicht, noch nicht. Immerhin: die Europäer sind in einem Punkt Putin entgegengekommen: Sie sehen Maschadow nicht unbedingt als Sprecher Tschetscheniens. Und damit kann Putin zufrieden sein.

Im Alltag dagegen hat die EU eine schwere Klippe im Umgang mit Moskau umschifft. Die Klippe: Kaliningrad, die russische Exklave.

Mit diplomatischen Fingerspitzengefühl verzichtet man darauf, Visa von den Russen zu fordern, die, wenn sie nach Kaliningrad fahren, ja nach Russland reisen. Aber man verzichtet nicht auf ein Transitdokument, das den besorgten Bürger der EU das Gefühl vermittelt: hier wird nicht durch Nachlässigkeit ein Einfallstor für Illegale, für Flüchtlinge, für die Mafia geöffnet. Denn das fürchten die Bürger. Das detailreiche Abkommen lässt beide Seiten ihr Gesicht wahren - und wird sich - wie bei Kompromissen üblich - im Alltag bewähren müssen. Und kann dann sicher auch noch nachverbessert werden, wenn es nötig wäre.

Der eintägige Gipfel zwischen Russland und der EU war der inzwischen zehnte seiner Art. Das zeigt, wie selbstverständlich die Beziehungen geworden sind. Reibereien, Dissens, Verstimmungen - das stört nicht erheblich. Russland ist ein wichtiger Partner für die Europäer, und für die NATO übrigens auch.

Den dramatischen Wandel auf dem europäischen Kontinent seit der Kommunismus verschwunden ist, kann man gerade an der gelassenen Ruhe und Unaufgeregtheit beobachten, mit der beide Seiten inzwischen miteinander umgehen. Das Unspektakuläre ist ein Zeichen für die Normalität. Und die Fähigkeit, Kompromisse auszuhandeln, auch.