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Kontroversen um die Aktion "letzte Chance" des Simon-Wiesenthal-Zentrums in Polen

17. Juni 2004

– Wissenschaftler und Historiker erheben Bedenken

https://p.dw.com/p/5CHr

Krakau, 17.6.2004, DZIENNIK POLSKI, poln.

Das Simon-Wiesenthal-Zentrum hat gestern die Aktion "letzte Chance" in Polen begonnen. Dank der speziellen Hotline sollen Informationen über Personen gesammelt werden, die während des Zweiten Weltkrieges mit den Deutschen kollaboriert und zur Ermordung von jüdischen Mitbürgern beigetragen haben. Den potentiellen Informanten wird eine Belohnung in Höhe von 10 000 Euro geboten, allerdings erst nachdem die von ihnen angezeigte Person durch ein rechtskräftiges Gerichtsurteil bestraft worden ist.

Die Informationen sollen vor Ort begutachtet und später nach Jerusalem weiter geleitet und erst dann dem polnischen Institut für Nationales Gedenken (IPN) zur Verfügung gestellt werden. Die Begeisterung des IPN hält sich allerdings in Grenzen.

Das INP schätze sehr die Zusammenarbeit mit dem Simon-Wiesenthal-Zentrum, aber diese Zusammenarbeit erstrecke sich nicht auf diese Hotline, sagte Professor Witold Kulesza, der Vorsitzende des Institutes für Nationales Gedenken, gegenüber der Polnischen Presseagentur PAP und fügte hinzu: "Meiner Ansicht nach gibt es praktisch keine Chancen dafür, dass in Polen noch Personen leben, die wegen der von ihnen begangenen Naziverbrechen und wegen Verbrechen gegen polnische Staatsbürger jüdischer Abstammung verurteilt werden können".

Die Idee des Simon-Wiesenthal-Zentrums ruft Bedenken bei einigen sehr bekannten polnischen Historikern wie Professor Tomasz Strzembosz und Professors Tomasz Gasowski hervor, die sich mit der polnisch- jüdischen Geschichte beschäftigen. (...)

Professor Jozef Andrzej Gierowski, Historiker an der Jagiellonen-Universität, Gründer der Judäischen Fakultät und ehemaliger Soldat der polnischen Untergrundarmee AK, gehört zu den Gegnern des Projektes: "Ich sehe keine Notwendigkeit dafür, dass die Aufgaben, die zum Bereich des Institutes für Nationales Gedenken gehören, von jemandem anderen parallel übernommen werden sollten", sagt Professor Gierowski.

Eine andere Auffassung vertritt Marek Edelman, einer der Gründer der jüdischen Untergrundbewegung im Warschauer Ghetto: "Alle bieten doch eine Belohnung an, wenn sie einen Verbrecher fassen wollen. Aus diesem Grunde wundert mich auch nicht, dass das Simon-Wiesenthal-Zentrum ebenfalls so verfährt", sagt Marek Edelman. (...)

Professor Tomasz Strzembosz betont, dass die polnisch-jüdischen Beziehungen während des Zweiten Weltkrieges nicht einheitlich sondern kompliziert waren und erklärt, dass es in jeder Bevölkerung sowohl Helden als auch Kollaborateure gegeben hat. Er erinnert daran, dass fast 1 000 Polen für die Rettung von Juden mit dem eigenen Leben bezahlen mussten und dass sich diese Zahl nur auf die dokumentierten Fälle bezieht. Es wird gerechnet, dass in den Jahren 1939 - 1945 insgesamt 100 000 Polen Juden geholfen haben. (...)

Professor Tomasz Gasowski, Historiker an der Jagiellonen-Universität in Krakau, (...) ist der Meinung, dass die Initiative des Simon-Wiesenthal-Zentrums eine unfreundliche Geste gegenüber Polen darstellt: "Wir sind jedoch selbst schuld daran, weil wir nicht imstande waren, manche Ereignisse aus der Vergangenheit zu untersuchen und zu aufzuarbeiten. Auf diese Weise haben wir das Feld den Anderen wie z. B. dem Simon-Wiesenthal-Zentrum überlassen", sagte Professor Gasowski.

Nach Meinung von Professor Gasowski und Professor Strzembosz sollten sich die Juden auch mit ihrer eigenen Geschichte beschäftigen und ebenfalls mit den dunklen Kapiteln, die ihre Landsleute verursacht haben: "Bis heute wurden z. B. die Fälle der Kollaboration polnischer Staatsbürger jüdischer Abstammung mit dem sowjetischen Besatzer in den Jahren 1939 - 1941 sowie ihre Beteiligung an den kommunistischen Verbrechen nicht untersucht. Der Kommunismus war aber auch ein verbrecherisches System wie der Nationalsozialismus", sagt Professor Tomasz Gasowski. (...)

Efraim Zuroff, der Leiter des Büros des Simon-Wiesenthal-Zentrums gibt zu, dass die Belohnung die Menschen motivieren soll, ihre Aussagen zu machen. (...) (sta)