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Kräftemessen in Istanbul

16. Juni 2013

Während sich Erdogan bei einer Veranstaltung in Istanbul von Anhängern bejubeln ließ, demonstrierten in der Innenstadt Tausende erneut gegen ihn. Die Protestbewegung will sich nicht entmutigen lassen.

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Türkeis Ministerpräsident Tayyip Erdogan mit seiner Ehefrau bei einer Großveranstaltun in Istanbul (Foto: rtr)
Bild: Reuters

Als Reaktion auf die Protestwelle gegen ihren Ministerpräsidenten Recep Tyyip Erdogan kamen Zehntausende Anhänger der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP in einem Park etwas außerhalb von Istanbul zusammen. Die Kundgebung, die auf dem größten Platz der türkischen Metropole stattfand, stand unter dem Motto: "Los, lasst uns Geschichte schreiben!" Erdogans Auftritt wurde bejubelt und gefeiert.

"Gesindel und Terroristen"

In seiner Rede beschimpfte er die Protestbewegung, die am Samstagabend und in der Nacht mit Polizeigewalt aus dem Gezi-Park vertrieben worden war, als "Terroristen" und "Gesindel". Er wies auch Kritik des Europaparlaments an seiner Politik der harten Hand zurück. Ausländischen Medien warf er falsche Berichterstattung vor und behauptete, die britische BBC, der US-Nachrichtensender CNN und die Nachrichtenagentur Reuters betrieben Desinformation. In den vergangenen Tagen hatten bereits einige Tageszeitungen aus dem religiösen Spektrum Stimmung gegen ausländische Medien gemacht.

Zeitgleich versammelten sich Zehntausende Menschen in Istanbuls Innenstadt zu neuen Demonstrationen gegen die Regierung. Nach einem Aufruf der Protestbewegung versuchten die Demonstranten aus umliegenden Stadtvierteln in Richtung des von der Polizei abgeriegelten Taksim-Platzes zu gelangen, berichteten Augenzeugen. Allerdings wurden sie von der Polizei immer wieder mit Tränengas und Wasserwerfern zurückgedrängt. "Überall ist Taksim, überall ist Widerstand", riefen die Demonstranten. Tausende Fußballfans schlossen sich erneut den Protesten an, die von Besiktas aus zum Taksim-Platz gelangen wollten.

Hunderte Menschen verletzt

Während des Tages hielt die Polizei den Taksim-Platz und den in der Nacht mit einem großen Polizeieinsatz geräumten Gezi-Park weiter abgesperrt. Arbeiter beseitigten am Morgen auf dem Platz  die letzten Reste des Protestlagers der Demonstranten, wie Augenzeugen sagten.

Die Grünen-Politikerin Claudia Roth hatte in Istanbul entsetzt miterlebt, wie am Samstagabend und in der Nacht das Protestlager am Taksim-Platz von der Polizei geräumt wurde. "Das ist wie im Krieg. Die jagen die Leute durch die Straßen und feuern gezielt mit Tränengas-Granaten auf die Menschen", sagte die Parteivorsitzende der Grünen dem Fernsehsender Phoenix. Sie bezeichnete die Nacht als das schlimmste Erlebnis ihres Lebens. Polizeikräfte seien sogar in Hotelräume eingedrungen und hätten Krankenstationen angegriffen. "Einen so gewalttätigen Angriff habe ich noch nie erlebt", so Roth. Niemand der friedlichen Demonstranten habe mit diesem Angriff rechnen können.

Türkei: Demonstranten lassen nicht locker

Bei der gewaltsamen Räumung des Gezi-Parkes sind nach Angaben der türkischen Protestbewegung in der Nacht zum Sonntag hunderte Menschen verletzt worden. Die Taksim-Plattform, die zu den wichtigsten Organisatoren der Proteste gehört, wertete den Einsatz von Gummigeschossen, starkem Tränengas und Schockgranaten zu einer Zeit, zu der auch viele Frauen mit Kindern und ältere Menschen im Park waren, als Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Sie verlangte, die Polizei müsse auch aufhören, die Arbeit von Ärzten zu behindern, die den Demonstranten freiwillig helfen. Die Organisation erklärte, die Gewalt werde die Proteste im Land nicht stoppen können. Während des Tages gab es weitere Auseinandersetzungen. Die Polizei habe eine Gruppe Demonstranten von der Einkaufsstraße Istiklal aus mit Tränengas und Wasserwerfern verfolgt, berichtete ein Augenzeuge. Die Demonstranten hätten Steine geworfen und Sprechchöre gegen die Regierung skandiert.

Türkische Medien berichteten, die Regierung habe zur Verstärkung der Polizei auch Einheiten der militärisch gerüsteten Gendarmerie auf die Straßen der türkischen Metropole geschickt. Der Gouverneur der Provinz Istanbul, Hüseyin Avni Mutlu, erklärte in der Nacht, aus den Reihen der Demonstranten seien zwei Polizisten mit Waffen verletzt worden. Dies sei eine "wichtige Information".

Protestbewegung will weitermachen

Nach der Räumung des Parks zogen Tausende Menschen in mehreren Stadtteilen Istanbuls auf die Straßen und errichteten Barrikaden. Einige forderten den Rücktritt Erdogans. Auf Fernsehbildern war zu sehen, wie eine Gruppe Demonstranten eine große Zufahrtstraße zum Atatürk-Flughafen blockierte.

Auch in der Hauptstadt Ankara kam es zu Protesten. Dort setzten sich demonstrativ Oppositionsabgeordnete in die erste Reihe, um einen Tränengas-Einsatz zu verhindern. Die beiden Gewerkschaftsorganisationen Kesk und Disk riefen für Montag zu einem Generalstreik auf.

Demonstranten und Polizei in Ankara (Foto: rtr)
Auch in Ankara wurde protestiertBild: Reuters

Der erste gewaltsame Polizeieinsatz gegen die Aktivisten in dem Park hatte vor zwei Wochen die größte Protestwelle in der rund zehnjährigen Amtszeit Erdogans ausgelöst. Ursprünglich richtete sich der Widerstand einzelner Gruppen gegen die Pläne der Regierung, im Gezi-Park eine Nachbildung einer osmanischen Kaserne zu bauen. Doch das massive Vorgehen der Polizei sorgte dafür, dass sich die Demonstrationen zu einem landesweiten Protest gegen Erdogan auswuchsen. Dabei wurden nach Angaben des Ärzteverbandes vier Menschen getötet und etwa 5000 weitere verletzt. Die Demonstranten werfen dem konservativen Ministerpräsidenten einen zunehmend autoritären Regierungsstil vor und befürchten eine schleichende Islamisierung des Staates.

as/ml (dpa, rtr, afp)