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Geschichte der Krankenversicherung

Günther Birkenstock29. Juni 2012

In den USA wird jetzt erstmals eine gesetzliche Krankenversicherung eingeführt. In Deutschland gibt es sie bereits seit 130 Jahren. Doch Wohltätigkeit war damals nicht das Motiv.

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Deutschlands Reichskanzler Otto von Bismarck (Quelle: Ullstein)
Bild: Ullstein

Um 1850 lebten in Berlin rund 420.000 Einwohner, 1900 waren es mehr als vier mal soviel. Die Industrialisierung trieb die Verstädterung Deutschlands voran. Gleichzeitig stieg die Zahl der Industriearbeiter und Tagelöhner enorm und damit auch das Elend eines großen Teils der Bevölkerung, der sich weder ausreichend gesunde Nahrung, noch eine Krankenversorgung leisten konnte. Erst recht war es diesem Teil der Bevölkerung unmöglich, aus Krankheitsgründen die Arbeit zu unterbrechen. Hinzu kamen die schlechten hygienischen Verhältnisse vieler Wohnungen und Unterkünfte, die eine rasche Erholung der Kranken oft verhinderte.

Durch die häufig miserablen Lebensumstände der Arbeiter wuchs der Einfluss der sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien und der Arbeitervereine. Ihnen wollte der deutsche Kaiser den Wind aus den Segeln nehmen, als er 1883 die erste gesetzliche Krankenversicherung für Arbeiter einführte. Daneben gab es noch einen anderen, ganz und gar praktischen Grund, wie der Sprecher der ältesten deutschen Krankenkasse AOK, Udo Barske, im Gespräch mit der Deutschen Welle betont: "Bei vielen Musterungsuntersuchungen hatte man festgestellt, dass der Gesundheitszustand der Arbeiterklasse so schlecht war, dass sie nicht als Soldaten taugen. Das war mit ein Antrieb zu Gründung einer Unfallversicherung und dann auch der Krankenversicherung."

Deutschland war Vorreiter

Schon im alten Rom gab es versicherungsähnliche Einrichtungen. Im Mittelalter und der späteren Feudalgesellschaft waren es vor allem Gilden und Zünfte, die sich um ihre Mitglieder im Falle von Krankheit und Arbeitsunfähigkeit kümmerten. Am wichtigsten war jedoch seit altersher die Familie als Puffer für soziale Notzeiten. Durch das Auflösen ländlicher Großfamilienstrukturen im Laufe des 19. Jahrhunderts fiel diese Absicherung einzelner jedoch häufig weg. Als Bismarck 1883 die Gesetzliche Krankenversicherung einführte, war das europaweit betrachtet eine große soziale Errungenschaft, auch wenn kein soziales Motiv bewirkte, dass die Versicherung ins Leben gerufen wurde.

Udo Barske vom AOK-Bundesverband (Foto: AOK)
Udo Barske vom AOK-BundesverbandBild: AOK-Mediendienst

Neben der politischen Stabilisierung konnte Bismarck einen weiteren Gewinn verzeichnen: die bessere Krankenversorgung förderte den Wirtschaftsstandort Deutschland und war damit ein Wettbewerbsvorteil. Den Unternehmen standen gesunde Mitarbeiter zur Verfügung. Das beschleunigte gerade im Vergleich mit England Deutschlands wirtschaftliche Entwicklung, meint Udo Barske. Seiner Meinung nach wird dieser wichtige Punkt bei der derzeitigen Diskussion in den USA vergessen. Zu beobachten sei geradezu eine Ironie der Geschichte, wenn man sich die Argumente der Republikaner und das Kalkül Bismarcks anschaue: "Bismarck hat versucht, den Sozialisten das Wasser abzugraben, indem er die Gesetzliche Krankenversicherung einführte. Heute hingegen gilt in den USA die Versicherung als Sozialistenwerk und großes Übel."

Zunächst ging es ums Überleben

Wie wichtig eine gesetzliche Krankenversicherung ist, wird nach Meinung von Udo Barske durch den Kostenvergleich Deutschland-USA augenfällig. In den USA sind die Ausgaben im Gesundheitssystem weit höher als in der Bundesrepublik. Das liege mit daran, dass die Kranken so lange warteten, bis sie nicht mehr anders könnten, als ins Krankenhaus zu gehen. Im Notfall seien dort die Ärzte verpflichtet, die Kranken zu behandeln. Diese Kosten müsse dann der Staat tragen. Würde man sich vorher um die Gesundheit der Menschen kümmern, wären viele Kosten vermeidbar.

Menschen stehen vor der Ortskrankenkasse in Nürnberg Schlange (Foto: dpa)
Versicherung für alle: Schlange stehen vor der Krankenkasse 1957Bild: Picture-Alliance/dpa

Die Krankenversicherung, die Bismarck ins Leben rief, ist mit der von heute kaum zu vergleichen, meint AOK-Sprecher Barske, und das habe wenig damit zu tun, dass Arbeiter damals nur 1,8 Prozent ihres Einkommens für die Versicherung aufwenden mussten, heute hingegen 15,5 Prozent. Heute gebe es ein umfassendes Leistungspaket, Ende des 19. Jahrhunderts habe es allenfalls eine Grundversorgung gegeben, die vor dem Verhungern rettete: "Das blieb ganz bescheiden mit Krankengeldzahlungen. Das heißt, die ersten Leistungen für Arbeiter bestanden darin, dass, wenn ein Ernährer krank wurde, das Familieneinkommen gesichert wurde. Erst in den folgenden Jahren kamen weitere Leistungen hinzu für ärztliche Behandlung, für Krankenhausbehandlung, für Medikamente. Und alle Leistungen waren zeitlich begrenzt."

Schritt für Schritt wurde das System der Krankenversicherung ausgebaut. Seine heute bekannte Größe erreichte es erst nach dem Zweiten Weltkrieg mit Deutschlands wirtschaftlichem Aufschwung. Heute sind die Gesundheitsausgaben so hoch wie nie zuvor, mehr als 250 Milliarden Euro werden es im Jahr 2012 sein, auf die Gesetzliche Krankenkasse entfällt dabei ein Anteil von rund 180 Milliarden Euro. Die Höhe ist derzeit aber kein Schrecken für die Kassen. Denn durch die Beitragseinahmen aufgrund der hohen Zahl der Beschäftigten liegen sie derzeit deutlich im Plus.