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Kreislauf der Gewalt

Miodrag Soric6. Juli 2003

Die Anschläge auf ein Rockfestival in Moskau wurden vermutlich von Tschetscheninnen verübt. Ohne Offenheit für eine internationale Lösung wird Putin das Tschetschenien-Problem nicht lösen können, meint Miodrag Soric.

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"Jeder, der die Gewalt zu seiner Methode gemacht hat, muss zwangsläufig die Lüge zu seinem Prinzip erwählen." Was der russische Schriftsteller Alexander Solschenizyn bei seiner Nobelpreisrede vor über 30 Jahren sagte, gilt noch heute: Gewalt führt zu nichts, im Gegenteil: Sie zieht andere Übel wie Gegengewalt, Fanatismus oder die Verbreitung von Lügen nach sich.

Die beiden Frauen – vermutlich Tschetscheninnen - die sich am Samstag (5. Juli 2003) bei einem Moskauer Rockkonzert in die Luft gesprengt haben und mindestens 13 Menschen mit in den Tod rissen, haben der tschetschenischen Sache, also dem Streben nach Unabhängigkeit von Moskau, keinen Dienst erwiesen. Terroranschläge wie diese kosten die Tschetschenen Sympathie, stoßen - wie die Reaktionen weltweit zeigen - auf einhellige Ablehnung. Schließlich zielte der Anschlag auf Zivilisten, auf Jugendliche, die sich bei einem Rockkonzert vergnügen wollten. Aber auch Moskau hat außer blinder Gewaltanwendung keine Antwort auf die Tschetschenien-Frage.

Was bringt die beiden Frauen dazu, ihr noch junges Leben auf so grausame Weise zu beenden? Diese Frage werden sich die meisten russischen Politiker kaum stellen. Terror sei nun mal Terror, und den gelte es nicht zu verstehen, sondern mit aller Gewalt zu bekämpfen, erklären sie. Und handeln entsprechend. Die russischen Truppen in Tschetschenien, Milizen, Sondereinheiten des Geheimdienstes und andere Sicherheitskräfte werden gleich nach dem Anschlag mit noch größerer Brutalität gegen echte und vermutete Widerständler im Kaukasus vorgehen. Sie werden - wie so oft - auch Unschuldige festnehmen, manchmal foltern und dann spurlos verschwinden lassen.

Ein Teil der Angehörigen wiederum wird alles tun, um sich zu rächen. Gleichzeitig werden schlecht bezahlte russische Soldaten einen Teil ihrer Waffen an tschetschenische Separatisten verkaufen, womit diese wiederum Anschläge gegen Russen verüben. Ein Übel zieht das andere nach sich.

Im Kaukasus rotiert der Kreislauf der Gewalt. Moskau ist damit überfordert, ihn zu unterbrechen. Wie oft hat Präsident Wladimir Putin den Krieg in Tschetschenien für beendet erklärt? Und doch sind allein im vergangenen Jahr Hunderte von unschuldigen Zivilisten bei ähnlichen Terroranschlägen ums Leben gekommen. Inzwischen sollte es sich sogar im Kreml herumgesprochen haben, dass der Konflikt mit militärischen Mitteln nicht zu lösen ist. Die politischen Mittel, die Moskau bislang eingesetzt hat, sind allerdings auch wenig erfolgversprechend. Was nützt ein Referendum, bei dem angeblich die eindeutige Mehrheit der Tschetschenen für einen Verbleib in der russischen Föderation votiert, wenn in Wirklichkeit die Menschen nach wie vor die Unabhängigkeit anstreben?

In Moskau heißt es, der jüngste Terroranschlag sei die Antwort der Separatisten auf die Ankündigung Putins, am 5. Oktober 2003 in Tschetschenien einen neuen Präsidenten wählen zu lassen. Man braucht keine prophetischen Gaben zu besitzen, um bereits jetzt vorauszusagen, dass jener Kandidat siegen wird, der Putin genehm ist. Der politische Wille der Bewohner der Kaukasus-Republik spielt keine Rolle. Deshalb wird der Kreml nach den bevorstehenden Präsidentschaftswahlen in Tschetschenien dem Frieden keinen Schritt näher sein.

Dabei gäbe es einen relativ leichten Weg zur Lösung des Tschetschenien-Problems. Innerhalb von Wochen würde der Frieden in Tschetschenien einkehren, wenn ausländische Truppen mit einem Mandat der Vereinten Nationen zumindest als Beobachter im Kaukasus stationiert werden würden. Ihnen würden die Tschetschenen vertrauen. Binnen Monaten könnten Wahlen, die diesen Namen verdienen, abgehalten werden.

Moskau aber fürchtet, dass sich dann zunächst die Tschetschenen von Moskau lossagen und später andere Völker diesem Beispiel folgen könnten. Deshalb duldet Moskau keine ausländischen Truppen auf dem eigenen Territorium. Hinzu kommt, dass die Präsenz ausländischer Truppen in Russland ein Beleg dafür wäre, dass Moskau nicht in der Lage ist, die Nationalitätenprobleme im eigenen Land zu lösen.

Vergleichen heißt nicht gleichsetzen, doch die Erfahrung des Nahost-Konfliktes zeigt: Je länger blutige Auseinandersetzungen dieser Art dauern, desto schwieriger wird es, sie friedlich zu lösen. Deutschland und der Westen sind an einem stabilen, demokratischen und wohlhabenden Russland interessiert. Vielleicht findet Präsident Putin ja doch einen Weg, um mit internationaler Unterstützung das Tschetschenien-Problem zu lösen.