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KonflikteUkraine

Kriegsverbrechen in der Ukraine: Warum Deutschland ermittelt

7. März 2024

Russische Soldaten sollen in einem Vorort von Kiew gezielt auf zivile Fahrzeuge geschossen haben. Ein Deutscher überlebte den Beschuss vor zwei Jahren nur knapp. Inzwischen ermittelt der Generalbundesanwalt.

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Ein russischer Panzer neben einem Wohnblock in Hostomel, März 2022
Ein russischer Panzer im März 2022 in Hostomel Bild: Alexandr Suschevsky

Am 24. Februar 2022 ging es auf der M07, der wichtigsten Autobahn, die Kiew mit dem Westen der Ukraine verbindet, fast nur in eine Richtung: nach Westen. Tausende Menschen, vor allem Frauen und Kinder, waren auf der Flucht von der russischen Invasion. Unter den wenigen, die in andere Richtung wollten, war Steve M. - ein Feuerwehrmann aus dem sächsischen Borna bei Leipzig. Wenige Stunden nachdem in Kiew die ersten Bomben einschlugen, machte sich der Deutsche auf den Weg in die ukrainische Hauptstadt. 1500 Kilometer trennten ihn von seiner ukrainischen Frau und ihrem Sohn. Steve M. war erst seit wenigen Wochen verheiratet, seine Frau wartete mit dem Stiefsohn nur auf ihren Sprachtest, um zu Steve M. nach Deutschland zu ziehen. Dann kam der Krieg.

Schüsse aus dem Hinterhalt

Am frühen Morgen des 25. Februar hatte der Bornaer 24 Stunden Fahrt fast ohne Schlaf hinter sich. Er war fast am Ziel, als sein Skoda in Hostomel, wenige Kilometer vor Kiew, durch gezielte Schüsse aus einem Hinterhalt gestoppt wurde. Es waren russische Besatzer, die sich im Wald versteckten und wahllos über Stunden auf zivile Fahrzeuge schossen, stellten ukrainische Ermittler später fest. "Geschossen wurde aus Sturm- und Maschinengewehren, aber auch aus der Kanone eines gepanzerten Schützenwagens - aus allem, was sie hatten", erzählt der Ermittler Dmytro Sitar von der Staatsanwaltschaft in Kiew im Gespräch mit der DW. Das Ergebnis der mehrstündigen Jagd auf Zivilisten: fünf Tote, darunter ein Paar - erst 22 Jahre alt. Acht weitere Autofahrer, teils schwer verletzt, konnten sich retten.

Den zerschossenen "Skoda" von Steve M. bei Hostomel
Den zerschossenen Wagen von Steve M. hatte ein Augenzeuge mit seinem Handy gefilmt, als sich die russischen Soldaten zurückzogenBild: Kyiv City Prosecutor´s Office

Überwachungsvideos als wichtigster Beweis

Die Russen zogen sich in den Wald am Ortsrand von Hostomel zurück, nachdem sie kurz zuvor auf dem Weg nach Kiew unter Artilleriebeschuss gerieten. Ihr Vormarsch endete abrupt direkt vor den Toren der ukrainischen Hauptstadt: Die Brücke über den Fluss Irpin, die letzte Hürde auf dem Weg nach Kiew, wurde in der Nacht von den Ukrainern gesprengt. "Vielleicht war es ein Racheakt", antwortet Sitar auf die Frage nach einem möglichen Motiv. Er spricht von einem kaltblütigen Mord an Zivilisten. "Es gab keine Warnschüsse, keine Checkpoints wurden eingerichtet, um Fahrzeuge zu kontrollieren. Es gab offenbar den Befehl, gezielt auf alle vorbeifahrenden Autos zu schießen", so der Staatsanwalt.

Ein halbes Jahr später, nach dem Rückzug der russischen Besatzer, konnten die Ermittler die Schützen identifizieren. Zunächst wurden die Angreifer einer Armeeeinheit zugeordnet - es waren OMON-Kämpfer aus sibirischem Krasnojarsk. OMON sind Sondereinsatzkommandos der "Rosgwardija", deren Aufgabe in Friedenszeiten vor allem darin besteht, das Regime in Moskau vor unliebsamen Demonstrationen zu schützen. In Hostomel hinterließen sie viele Spuren - von Personalausweisen einzelner Kämpfer bis hin zu Etiketten auf Munitionskisten.

Screenshot der Aufnahmen von Überwachungskameras in Hostomel: OMON- Kämpfer schießen auf mehreren Richtungen auf ein vorbeifahrendes Auto
Bild aus einem Video vom Tatort, gefilmt von einer Überwachungskamera eines Supermarkts. OMON- Kämpfer schießen aus mehreren Richtungen auf ein vorbeifahrendes AutoBild: Kyiv City Prosecutor´s Office

Mit Hilfe von Gesichtserkennung konnten fünf Verdächtige OMON-Kämpfer identifiziert werden. Ein Glücksfall für die Ermittler: Die Soldaten wurden stundenlang aus kürzester Entfernung von mehreren Überwachungskameras eines Supermarkts gefilmt. Die Aufnahmen wurden mit Bildern aus Sozialen Netzwerken und von Internetseiten russischer Sicherheitsbehörden abgeglichen. Demnächst wird den fünf identifizierten Russen in Kiew in Abwesenheit der Prozess gemacht. Trotz der Beweisvideos waren die Ermittlungen eine Mammutaufgabe: Dutzende ballistische, fototechnische und gerichtsmedizinische Gutachten mussten akribisch erstellt werden. Schon die Zeugenbefragung war nicht einfach, denn viele potenzielle Zeugen sind in den ersten Kriegstagen ins Ausland geflüchtet, auch nach Deutschland.

Zusammenarbeit mit deutschen Ermittlungsbehörden

Auch den Feuerwehrmann Steve M. konnten ukrainische Ermittler Monate später in Deutschland ausfindig machen. Er überlebte den Angriff, konnte sich aus seinem zerschossenen Skoda retten und fliehen. "Er hatte Glück", sagt Dmytro Sitar. Die Russen schossen auch auf fliehende Autofahrer, die sich im Wald verstecken wollten. Auch eine Frau, die anhielt, um Verletzten zu helfen, wurde angegriffen, so Sitar. Steve M. wurde nach der Flucht mit zahlreichen Splittern im Kopf in ein Krankenhaus eingeliefert. Einige Tage danach floh er aus dem Krankenhaus vor den russischen Besatzern, erzählte er später deutschen Medien. Zusammen mit seinem behandelnden Arzt ging der Deutsche in die Westukraine. Bald stießen auch seine Frau und der Stiefsohn zu ihm.

Stil von einem Video, der zeigt, wie Steve M. blutüberströmt vor den Tätern flieht
Eine weitere Überwachungskamera hielt fest, wie Steve M. blutüberströmt vor den Tätern fliehtBild: Kyiv City Prosecutor´s Office

Auf der Suche nach dem Fahrer des zerschossenen Skoda aus Deutschland glichen ukrainische Ermittler die Autokennzeichen mit der Datenbank des Grenzschutzes ab und fanden so den Namen des Deutschen heraus. Auf Anfrage aus der Ukraine befragten deutsche Behörden Steve M. und übermittelten die Zeugenaussage des Opfers an die ukrainischen Kollegen.

Zwei Jahre später wartet man in Kiew auf Steve M. zur Aussage vor Gericht. Denn ukrainische Richter können schriftliche Zeugnisse zwar zur Kenntnis nehmen, aber nicht als Beweis berücksichtigen, so Dmytro Sitar. Ob der Deutsche sich erneut auf den Weg ins Kriegsland macht, ist offen. Im Dezember sagte er der BILD-Zeitung, er wolle sich der Gefahr nicht noch einmal aussetzen.

Strafverfahren in Deutschland - mehr als ein Symbol?

Derweil wird im Zusammenhang mit dem Angriff auf Zivilisten in Hostomel auch in Deutschland beim Generalbundesanwalt ermittelt, bestätigte eine Sprecherin gegenüber der DW. Zu den Einzelheiten gibt es von der Ermittlungsbehörde keinen Kommentar - lediglich den Hinweis, dass ein Deutscher unter den Opfern des Angriffs sei. Ende Dezember sagte Bundesjustizminister Marco Buschmann im Gespräch mit der dpa, dass den Ermittlern zwischenzeitlich die Identität von fünf russischen Schützen bekannt sei. "Wenn wir der Täter habhaft werden, werden wir Anklage erheben", so der Minister. Vorwurf: Kriegsverbrechen.

Screenshot der Aufnahmen von Überwachungskameras in Hostomel mit Gesichter einiger russischen Soldaten
Dank der Bilder der Überwachungskameras konnte man einige der Täter identifizieren Bild: Kyiv City Prosecutor´s Office

Im Gegensatz zur Ukraine ist ein Prozess in Abwesenheit in Deutschland aber nicht möglich, erläuterte der Völkerrechtler Gerd Hankel vom Hamburger Institut für Sozialforschung im Gespräch mit der DW. Russland, wo sich die Beschuldigten wahrscheinlich aufhalten, liefert seine Staatsangehörigen nicht aus. Für Gerd Hankel sind die Strafverfahren in Deutschland und in der Ukraine dennoch nicht nur von symbolischer Bedeutung. "Es ist ein Signal an alle Täter: Die internationale Strafjustiz schläft nicht, sie hat Euch im Blick", so Hankel. Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen haben keine Verjährungsfristen, erinnert der Experte.