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Krise der Visegrád-Gruppe

Vladimir Müller1. März 2002

Bisher sorgten die Benes-Dekrete für Streit zwischen Tschechien und der Slowakei sowie Deutschland und Österreich. Doch nun hat sich im Vorfeld der EU-Erweiterungsgespräche auch Ungarn gegen die Dekrete gestellt.

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Tschechiens Regierungschef Zeman ist die Senkung der Gaspreise wichtiger als die Benes-DekreteBild: AP

Am 1. März wollten sie sich in Ungarn treffen: Die Ministerpräsidenten Ungarns, Polens, Tschechiens und der Slowakei. Sie hatten vor, gemeinsam über die Angebote der Europäischen Union für Agrarsubventionen zu beraten. Daraus ist jetzt nichts geworden. Grund: Die jüngste Forderung des ungarischen Premiers, Viktor Orbán, Tschechien und Slowakei müssten mit dem EU-Beitritt die Benes-Dekrete für "nichtig" erklären. Deshalb sagten Prag und Bratislava das Gipfeltreffen verärgert ab. Die Visegráder Vier - Ungarn, Polen, Tschechien und die Slowakei - stecken offensichtlich nach über zehnjährigem Bestehen in einer ernsten Krise.

Entsteht eine anti-tschechische Achse?

Die Benes-Dekrete wurden nach dem Zweiten Weltkrieg vom tschechoslowakischen Präsidenten, Edvard Benes, erlassen und dienten als Rechtsgrundlage der Vertreibung von drei Millionen Deutschen aus der damaligen Tschechoslowakei. Sie sorgen seit langem für Irritationen: Zwischen Tschechien einerseits und Österreich und Deutschland - vor allem Bayern, das sich als Schutzpatron der Sudetendeutschen versteht - andererseits. Jetzt hat aber auch der ungarische Ministerpräsident, Viktor Orbán, auf Anfrage eines Europa-Parlamentariers in Brüssel Forderungen an seinen slowakischen und tschechischen Nachbar gestellt. Das nehmen ihm die ehemaligen Brüder aus der Zeit des Warschauer Paktes besonders übel: Die slowakische Tageszeitung "Sme" verglich Orbán mit seinem diktatorischen Vorgänger Horthy, der vor über 60 Jahren gemeinsame Sachen mit Hitler machte. Der tschechische Parlamentspräsident, Václav Klaus, will nur dann in die Europäische Union, wenn diese die Gültigkeit der Benes-Dekrete anerkennt. Sein Landsmann und Politikwissenschaftler Bohumil Dolezal glaubt schon, eine neue anti-tschechische Achse sei im Begriff zu entstehen: die Achse München-Wien-Budapest.

Ist der Streit nur Wahlkampf-Munition?

Doch die EU denkt gar nicht daran, von Tschechien und der Slowakei eine Annullierung der Benes-Dekrete zu verlangen. Dies bestätigten mehrere EU-Abgeordnete und auch der deutsche Erweiterungskommissar, Günther Verheugen. Sind also die Äußerungen des ungarischen Premiers und die scharfe Reaktion Prags und Bratislavas nur Auswüchse eines populistisch geführten Wahlkampfes? Sowohl in Ungarn als auch in Tschechien und der Slowakei stehen demnächst Parlamentswahlen an.

Der ungarische Außenminister János Mártonyi beeilte sich auch, die Formulierungen von Ministerpräsident Orban abzuschwächen. Auch in Tschechien und der Slowakei bestehen kaum Zweifel darüber, dass die Vertreibung und Enteignung von Millionen von Mitbürgern im Jahre 1945 Unrecht war. Und es ist auch klar, dass das Prinzip der Kollektivschuld, auf dem die Dekrete beruhen, mit den Grundsätzen der Europäischen Union unvereinbar ist.

Die Bedeutung geschichtlicher Fragen ist groß

Warum aber weigern sich die tschechischen und slowakischen Politiker, den Schritt zu tun, dieses Unrecht juristisch aus der Welt zu schaffen? Kai-Olaf Lang von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik glaubt, dass eine Erklärung über die Ungültigkeit der Benes-Dekrete dem Schritt gleichkommen würde, sie rückwirkend aufzuheben. "Und dies - eine solche Annullierung - könnte eine Flut von Restitutionsforderungen auf die Regierungen zukommen lassen," so Lang.