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Kritik an Medien nach Kindermord in Russland

Roman Goncharenko2. März 2016

Eine offenbar psychisch kranke Tagesmutter tötete in Moskau brutal ein Kleinkind. In der Kritik stehen nicht nur die Polizei, sondern auch russische TV-Sender - weil sie zunächst nicht über das Verbrechen berichteten.

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Trauer um das ermordete Mädchen in Moskau (Foto: epa)
Trauer um das ermordete MädchenBild: picture-alliance/dpa/E. Shipenkov

Wer russische TV-Sender kennt, kann über diesen Fall nur staunen. Von morgens bis abends laufen dort Berichte und ganze Sendungen, die in sensationeller Aufmachung mit blutigen Nahaufnahmen und ohne ethische Skrupel über Morde, Raubüberfälle oder Vergewaltigungen berichten. Jeder Vorfall mit kriminellen Flüchtlingen oder Migranten in Europa, ob echt oder erfunden, findet seinen Sendeplatz. Doch die Nachricht über ein am Montag in Moskau grausam ermordetes Kleinkind wurde zunächst verschwiegen.

Kind getötet, Wohnung angezündet

Eine aus der zentralasiatischen Republik Usbekistan stammende Tagesmutter tötete offenbar ein vierjähriges Mädchen. Die 38-jährige Frau habe mit einem Messer seinen Kopf abgetrennt und die Wohnung mit der Leiche angezündet, heißt es aus Ermittlerkreisen. Danach sei die in schwarz gekleidete muslimische Frau in der Nähe einer U-Bahn-Haltestelle herumgegangen, habe "Allah ist groß" gerufen und den blutigen Kopf des Kindes gezeigt. Dabei habe sie gedroht, sich in die Luft zu sprengen. Die Polizei kam schnell, brauchte aber rund 40 Minuten, um sich für den Zugriff zu entscheiden. Die Frau hatte keinen Sprengstoff.

Erst später stellte sich heraus, dass sie psychisch krank und in ihrer Heimat in Behandlung war. Sie gestand, den Mord begangen zu haben. Über Motive gibt es noch keine Erkenntnisse. Allah habe ihr befohlen, das Kind zu töten, soll die Frau laut russischen Medien gesagt haben. Ein Gericht in Moskau ordnete am Mittwoch eine Untersuchungshaft von zwei Monaten an. Ermittler vermuten, dass es in diesem Fall auch Anstifter hätte geben können.

Kreml nimmt Medien in Schutz

In der Kritik steht jetzt nicht nur die für terroristische Angriffe speziell trainierte Moskauer Polizei, die in diesem Fall überfordert wirkte. Gestritten wird vor allem über das Verhalten mächtiger russischer Fernsehkanäle, die für die meisten Russen die wichtigste Nachrichtenquelle sind. Dmitri Peskow, Pressesprecher des russischen Präsidenten, dementierte am Dienstag jegliche Einmischung in die Berichterstattung. Er zeigte jedoch Verständnis für die Entscheidung der Fernsehkanäle, über den Kindermord zunächst nicht zu berichten. Der Vorfall sei "zu grausam, um das im Fernsehen zu zeigen", so der Kremlsprecher. Auch Leonid Lewin, Vorsitzender des Ausschusses für Informationspolitik in der russischen Staatsduma, attestierte den Fernsehleuten eine richtige Entscheidung.

Sicherheitskräfte in Moskau nach der Festnahme der Tagesmutter (Foto: epa)
Sicherheitskräfte in Moskau nach der Festnahme der TagesmutterBild: picture-alliance/dpa/E. Shipenkov

Terrorismus als Hintergrund?

Kritische Stimmen findet man vor allem im Internet. Er sei vom Schweigen der TV-Kanäle überrascht gewesen, schrieb der beliebte Blogger und Journalist beim Radiosender "Echo Moskwy", Alexander Pluschtschew. "Ich habe gedacht, das ist doch reichlich Stoff, um Hysterie zu schüren, nach dem Motto: Der 'Islamische Staat' steht vor der Tür, wir sollen in Syrien noch mehr bomben", meint Pluschtschew.

Doch möglicherweise möchte Moskau genau das Gegenteil: Jeden auch nur scheinbaren Zusammenhang mit dem russischen Militäreinsatz in Syrien vermeiden. Denn die bewusste Demonstration eines abgetrennten Kopfes von einer schwarz gekleideten Person, die "Allahu Akbar" ruft, erinnert durchaus an die grausamen Morde des IS.

Ähnlich zurückhaltend verhielten sich russische Medien und Behörden nach dem Absturz des russischen Flugzeugs in Ägypten im vergangenen Herbst. Dass es ein islamistischer Terroranschlag war, wurde erst Wochen später zugegeben. Im Fall des in Moskau getöteten Mädchens gab es zunächst weder Beweise noch einen Verdacht auf einen terroristischen Hintergrund. In den drei Punkten der Anklage, die jetzt erhoben wird, geht es nicht um Terrorismus. Erst am Mittwochnachmittag gab es erste Hinweise auf eine mögliche extremistische Spur. Die Ermittler seien auf der Suche nach zwei Männern aus dem Umfeld der mutmaßlichen Kindermörderin, die "möglicherweise mit einer internationalen extremistischen Gruppierung" verbunden seien, berichtete die Nachrichtenagentur Interfax.

Angst vor Unruhen

Manche in Russland argumentieren, das Schweigen der Fernsehkanäle sei gerechtfertigt, denn sonst würde es ethnische Unruhen oder gar Pogrome gegen Migranten geben. Doch nach dieser Logik hätten dann russische Fernsehkanäle "bewusst Unruhen in Deutschland provoziert", als sie am Jahresanfang ausführlich über eine angebliche Vergewaltigung eines Mädchens in Berlin durch Migranten berichteten, schreibt Pluschtschtew.

In der russischen Gesellschaft gibt es schon lange eine latent migrantenfeindliche Stimmung. Sie richtet sich vor allem gegen Millionen Menschen aus Zentralasien, die als Straßenfeger, Bauarbeiter oder auch Tagesmütter in Russland Geld verdienen. Diese Stimmung erreichte vor sechs bis sieben Jahren einen Höhepunkt, als es auch in Moskau zu Massenschlägereien zwischen russischen Nationalisten und Migranten kam. Danach schien sich die Lage stabilisiert zu haben. Die Moskauer Menschenrechtsorganisation "Sowa" zählte 2015 in ganz Russland neun Morde mit fremdenfeindlichem Hintergrund. 2010 waren es rund 40. Die meisten Opfer stammten aus Zentralasien. Im Moment, so scheint es, geht es der russischen Führung vor allem darum, das erneute Aufflammen solcher Unruhen zu verhindern.