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Heißer Herbst

21. September 2010

In Osteuropa dürfte es einen heißen politischen Herbst geben. Es deutet sich sogar eine Zeitenwende im post-sowjetischen Raum an, meint Ingo Mannteufel in seinem Kommentar.

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Symbolbild "Kommentar"
Bild: DW

Von vielen in Deutschland und Europa unbemerkt steigt gegenwärtig die Krisenstimmung in den post-sowjetischen Staaten an. Obwohl Russland und seine Nachbarstaaten für den Frieden und Wohlstand des europäischen Kontinents so wichtig sind wie kaum eine andere Region der Welt, so sehr sind leider Desinteresse und Unkenntnis über diese Länder verbreitet.

Portrait von Ingo Mannteufel (Foto: DW)
Ingo Mannteufel, Leiter der Russischen Redaktion

Aktuelle, meist negative Meldungen werden entsprechend üblicher Stereotype über Osteuropa eingeordnet und nicht weiter behandelt. Zu welchen Folgen diese Vernachlässigung führt, hat eindrucksvoll der russisch-georgische Krieg vor zwei Jahren gezeigt. Für die europäische Öffentlichkeit kam er völlig überraschend, obwohl er sich Monate vorher ankündigt hatte. Und auch jetzt ist es so, dass die Lage in Osteuropa wenig beachtet wird, obwohl der heiße Sommer in Osteuropa einen heißen politischen Herbst nach sich ziehen dürfte.

Nadelstiche zwischen Putin und Medwedew

In Russland nimmt die soziale Proteststimmung zu. Sie ist eine Folge der Waldbrände, denn diese wurden nicht nur ineffizient bekämpft, nun steigen auch noch die Preise für Grundnahrungsmittel. Das unter Putin entstandene politische System und auch der Ministerpräsident selbst haben einen deutlichen Vertrauensverlust erlitten.

Matrjoscha mit den Portraits von Dmitrij Medwedew und Wladimir Putin (Foto: dpa)
Anzeichen für Konflikt zwischen Medwedew und PutinBild: picture-alliance/ dpa

Zudem verstärken sich die Anzeichen, dass es zwischen dem Präsidenten Dmitrij Medwedew und seinem Ziehvater Wladimir Putin zu einem Konflikt um die Präsidentenwahl 2012 kommen könnte. Gegenseitige politische Nadelstiche zwischen Medwedew und Putin schaffen eine unklare und instabile politische Lage. Manche Beobachter vergleichen dies bereits mit den frühen Gorbatschow-Jahren, als Gorbatschow die Krise des sowjetischen Kommunismus durch eine radikale Reformpolitik offensiv angehen wollte und damit einen innerparteilichen Machtkampf auslöste.

Wie die Katastrophe von Tschernobyl könnten die Waldbrände in diesem Sommer als ein Katalysator für die alltägliche Unzufriedenheit mit den Lebensbedingungen wirken. Dabei richtet sich der Zorn vieler Russen noch weniger gegen Putin direkt als viel mehr gegen die Repräsentanten seiner Bürokratie. Ein wichtiger Indikator für die weitere Entwicklung dürfte das Verhalten der Bevölkerung am 10. Oktober werden, wenn in Russlands "gelenkter Demokratie" einige regionale und Hunderte von kommunalen Wahlen anstehen. Sollte Putins Partei trotz administrativer Ressourcen nicht die vorgegebenen Ergebnisse erhalten, wäre das ein böses Omen für die Präsidentenwahl 2012 und ein Schock für die regierende Elite.

Wichtige Wahlen in mehreren Ländern

Doch nicht nur Russland steht ein heißer politischer Herbst bevor. Die Situation in anderen post-sowjetischen Staaten ist vielfach noch angespannter: In Kirgisistan stehen am 10. Oktober Parlamentswahlen an, die nach dem Putsch gegen das Bakiew-Regime und ethnischen Unruhen das Land stabilisieren sollen. Eine Spaltung von Kirgisistan liegt dennoch in der Luft, weil sich die aus Bakiew-Zeiten stammenden Machthaber im Süden der neuen Staatsführung im Norden nur sehr widerwillig fügen.

Wahlurne mit Wahlzettel (Foto: Bilderbox)
Wahlen beeinflussen politisches KlimaBild: Bilderbox

In den zwischen Russland und der Europäischen Union liegenden Staaten brodelt es ebenso: Die Ukrainer bestimmen am 31. Oktober erstmals seit der Wahl von Präsident Janukowitsch neue Kommunalparlamente. Seit seinem Amtsantritt verstärken sich die autoritären Tendenzen. Der Ausgang der Wahlen dürfte das politische Klima eher weiter verschärfen. In der Republik Moldau gibt es zudem keine Aussichten auf eine rasche Lösung der tiefgreifenden politischen Krise. Dennoch stehen auch hier am 21. November erneut Wahlen an. Und im autoritär regierten Belarus will Präsident Lukaschenko am 19. Dezember seine Wiederwahl organisieren. Zwar hat er im Innern das Land im Griff, doch seine langjährige Herrschaft basiert auf sehr guten Beziehungen zu Russland. Doch aufgrund der seit einigen Wochen laufenden Anti-Lukaschenko-Kampagne in den russischen Medien ist im Verhältnis zwischen Minsk und Moskau eine erhebliche Verschlechterung festzustellen. Das macht nicht nur einen weiteren russisch-belarussischen "Gaskrieg" im Winter wahrscheinlich, sondern dürfte eben auch den Ausgang der Präsidentenwahlen erheblich beeinflussen.

Mehr Interesse an Osteuropa nötig

Alles deutet daraufhin, dass im Herbst und Winter 2011 die politischen Spannungen in Osteuropa zunehmen werden. Mehr noch: Nach dem totalen Niedergang in den 1990er Jahren und der positiven Stabilisierung im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts deutet sich nun eine neue Zeitenwende in Osteuropa an. Es wird immer deutlicher, dass die in den letzten Jahren geschaffenen politischen Ordnungen in den post-sowjetischen Staaten an die Grenzen ihres autoritären Entwicklungspotentials kommen. Es verbreitet sich in der Bevölkerung das unkonkrete, fast noch unpolitische Gefühl, dass es so wie bisher nicht weitergehen kann, auch wenn eine neue Richtung gegenwärtig noch unklar bleibt. Deutschland und Europa täten gut daran, diese politischen und gesellschaftlichen Prozesse in der zweiten Hälfte des eigenen Kontinents zu beobachten und aktiv zu unterstützen.

Autor: Ingo Mannteufel
Redaktion: Markian Ostaptschuk / Gero Rueter