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KULTUR.21 Lesezeit: unsere aktuellen Buchtipps

Die Frühjahrs- und Sommerbücher 2006 sind da - von Irving bis Schlink. Hier die die Auswahl der Kultur.21-Buchexperten:

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Bild: AP

Feridun Zaimoglu: Leyla.

Roman. Kiepenheuer & Witsch

Buchcover Leyla von Feridun Zaimoglu

In dieser Welt riecht es nach Honigmelonen und Gewürznelken. Sehnsucht und Angst schweißt die Menschen zusammen, lässt ihre Träume unter dem Straßenstaub verschwinden. Ein Dorf im Anatolien der 50er und 60er Jahre. Der Autor Feridun Zaimoglu schlüpft in die Rolle von «Leyla». Ein heranwachsendes Mädchen, das sich in einem patriarchalen System ihren Weg bahnt. Um der Macht des tyrannischen Vaters zu entfliehen, heiratet sie und landet schließlich in einem Zug gen Berlin.

«Leyla» - das ist ein Leseabenteuer, die Geschichte einer Migration gleich im doppelten Sinne - von der Türkei nach Deutschland und aus der Unterdrückung in die Freiheit. Feridun Zaimoglu, selbst geboren in der Türkei, erzählt von Menschen jenseits von Gastarbeiter-Klischees mit viel Verve, Mut und Feinsinn. Aus dem kultivierten Krawallmacher der Migrantenkinder ist ein ruhiger, sprachgewaltiger Autor geworden.
Aygül Cizmecioglu

John Irving: Bis ich dich finde. Roman. Diogenes-Verlag

Buchcover: John Irving - Bis ich dich finde

Gerade hat Romanheld Jack Burns seinen ersten Oscar bekommen – nun steht er mit der Statue unter dem Arm auf der Herrentoilette und weiß nicht wohin damit. Und dann biegt auch noch Arnold Schwarzenegger um die Ecke … So wie mit dieser Szene verhält es sich mit dem gesamten Roman: Am liebsten würde man Bestsellerautor Irvings jüngstes Werk bald auf der Leinwand sehen.

Doch wer an eine Komödie denkt, irrt: Das Buch hat eindeutig das Zeug zum Melodram, und zwar in Cinemascope. Denn vor Jacks Aufstieg zum Hollywood-Star liegt eine mehr als düstere Kindheit. Seine Mutter schleift ihn auf der Suche nach dem verschwundenen Vater durch halb Europa; als Zehnjähriger wird er von einer älteren Frau missbraucht. Weil Jacks Geschichte in Teilen auch Irvings eigene ist, sind ihm manche Passagen leider etwas detailverliebt geraten. Und so wünscht man sich am Ende der 1140 Seiten, dass ein Drehbuchautor auch mehr erzählerische Ökonomie walten lässt. Trotzdem: Ein berührendes und ehrliches Buch – für Irving-Fans ein absolutes Muss. Kerstin Hilt

Michael Roes: Weg nach Timimoun. Roman. Verlag Matthes und Seitz

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Bild: DW-TV

Orest, der mit seinem Freund Pylades nach Mykene zurückkehrt, um den ermordeten Vater zu rächen – dieser antike Mythos ist die Vorlage für Michael Roes Roman. Laid betreibt ein kleines Fotostudio in der algerischen Hafenstadt Bejaja. In einem Brief fleht seine Schwester, er solle den Vater rächen, der einst von seiner Frau, Laids Mutter, in einem Akt der Verzweiflung erschossen wurde. Unwillig macht sich der junge Mann auf den Weg in die legendäre Wüstenoase Timimoun, seine alte Heimat, begleitet von seinem Freund Nadir.

Es beginnt eine gefährliche Reise durch das von politischen Spannungen und religiösem Fundamentalismus zerrissene Algerien. In kraftvollen und malerischen Worten zeichnet Roes das Bild von einem Land gewalttätiger Väter und gefühlskalter Mütter, wo an malerischen Orten der Terror lauert. Ein Buch, das fesselt und mit jedem Wort spannender wird: Wie wird Laid sich entscheiden? Für die Tradition oder für ein modernes Leben? Absolut lesenswert!!! Bettina Kolb

Frank Schirrmacher: Minimum- vom Vergehen und Neuentstehen unserer Gemeinschaft. Sachbuch. Blessing Verlag

Buchcover: Frank Schirrmacher, Minimum

Deutschland, Land ohne Kinder. Bestsellerautor Frank Schirrmacher zeigt in seinem Buch «Minimum» auf, welche sozialen Folgen der demografische Niedergang für die Gesellschaft hat und wie Gemeinschaften funktionieren. Seine wichtigste These: Die Familie ist für die Gesellschaft unverzichtbar. Sie sei Überlebensfabrik, weil sie routiniert selbstlose soziale Arbeit für andere leiste und so das Zusammenleben sichere. Doch viele Familie zerfallen und auch der Wohlfahrtsstaat zieht sich zurück. Das drohende soziale Vakuum können nach Schirrmacher nur die Frauen abwenden: sie sollen für die nötige menschliche Wärme sorgen und soziale Netzwerke knüpfen. Hier greift Schirrmacher viel zu kurz. Aber sein Buch «Minimum» hat die Diskussion angeheizt mit der Mahnung: Kinder sind weit mehr als eine Privatangelegenheit! Wenn Deutschland nicht nachhaltig Familien und Kinder fördert, verspielen wir unsere Zukunft. Susanne Lenz-Gleißner

Moritz von Uslar: Waldstein oder der Tod des Walter Gieseking am 6. Juni 2005. Roman, Kiepenheuer & Witsch

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Bild: DW-TV

Oh je, schon wieder ein Poproman! Walter Gieseking, Anfang 30, steht vor der Frage: soll ich heiraten, Kinder machen und ein Haus kaufen (drohende Verspießerung) oder doch lieber meine Jugend verlängern (cool)?. Bevor die Entscheidung fällt, darf der Leser ein paar Tage und Nächte lang mit dem Helden die Schauplätze der Hardcore-Lifestyleszene in Berlin-Mitte abklappern. Das ist schon alles, aber es ist überraschend unterhaltsam. Eine sprachlich bis ins Detail treffsichere Momentaufnahme der Hauptstadtszene und ihrer Protagonisten und ein lakonischer Kommentar zur aktuellen Debatte um die "neue Bürgerlichkeit". Als Nachzügler der Autorenclique um Christian Kracht und Benjamin von Stuckrad-Barre - um die Jahrtausendwende Mittelpunkt jeder deutschen Salonrunde - macht Moritz von Uslar mit diesem literarischen Debut gar keine schlechte Figur.
Rainer Traube

Bernhard Schlink: Die Heimkehr. Roman. Diogenes-Verlag

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10 Jahre nach dem Millionenbestseller «Der Vorleser», der langerwartete neue Roman von Bernhard Schlink: «Die Heimkehr» Schlink gehört zu den erfolgreichsten Schriftstellern der Gegenwart, doch sein neuer Deutschlandroman enttäuscht. Im Zentrum: die Vater-Sohn Thematik. Ein Junge im Nachkriegsdeutschland wächst allein mit seiner Mutter auf, im Glauben, sein Vater sei im Krieg gefallen. Die Ferien verbringt er bei den Schweizer Großeltern, Redakteure für Groschenromane. Als er dort auf die Heimkehrergeschichte eines Soldaten aus dem 2. Weltkrieg stößt, beginnt die Suche nach dem eigenen Vater. In Windeseile fegt Schlink durch die deutsche Geschichte von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart, verbindet den Heimkehrermythos der Odyssee mit einer überkonstruierten Lebensgeschichte, im Zentrum immer die Vatersuche. Das, was spannend sein könnte, verliert sich in weitschweifigen Detaills – eine überzeugende Rückkehr des Romanciers Bernhard Schlink ist «Die Heimkehr» nicht. Regina Roland

Nicholas Shakespeare: In dieser einen Nacht. Roman. Rowohlt Verlag

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Da ist er endlich, der deutsche "Wenderoman" – und geschrieben hat ihn ein Engländer. «In dieser einen Nacht» von Nicholas Shakespeare ist eine doppelte Liebesgeschichte vor dem Hintergrund des geteilten Deutschland. Der Engländer Peter erfährt an seinem 16. Geburtstag, dass sein eigentlicher Vater ein politischer DDR-Häftling ist. Peter beginnt, sich für Deutschland zu interessieren, er studiert in Hamburg. Dann, plötzlich: die Chance für eine Reise in die DDR. Und dort wiederholt sich die Geschichte: Er verliebt sich, will einer jungen Frau bei der Flucht helfen – und kneift dann doch. Erst viele Jahre später, als die Mauer längst gefallen ist, begegnen sich die beiden wieder. Deutsche Teilung, Stasi-Schnüffelei, die Wiedervereinigung – wo mancher deutsche Autor bleischwer daherkommt, hat Nicholas Shakespeare eine wunderbar erzählte Geschichte geschrieben, die immer glaubwürdig bleibt, trotz zahlloser Klischees. Sabine Kieselbach

Harry G. Frankfurt: Bullshit. Essay. Suhrkamp Verlag

Buchcover: Harry G. Frankfurt - Bullshit

Ist es Gag, bitterer Ernst, Bullshit gar? Nein, statt Alltagsphilosophie liefert Harry G. Frankfurt ein kleines Meisterwerk ab: der amerikanische Philosophieprofessor erforscht das Woher und Warum eines Zeitphänomens. Fazit: Bullshit, hierzulande (noch) passiver Wortschatz, ist irgendwo im Dunstkreis von "Lüge", "Humbug" und "heißer Luft" zu Hause, und reizt das Spiel um Sein und Schein aus. Wer ihn produziert, pfeift auf Wahrheit, ohne zu lügen. "Ist der Bullshitter seinem Wesen nach ein geistloser Banause?", fragt Frankfurt, und fasst potenzielle Verursacher ins Visier: Stammtischbrüder, hochrangige Politiker oder Wirtschaftsbosse. Klar, ohne die Steilvorlagen eines US-amerikanischen Präsidenten wäre der Siegeszug des Essays von geringerer Schlagkraft. «Bullshit» ist dennoch kein kalkulierter Erfolg, sondern eine gezielte Provokation. Leonie Wild