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Löfflers Lektüren

17. April 2009

Scharfsinnig, kunstvoll, berauschend - so beschreibt die Jury die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff. Für ihren Roman "Apostoloff" erhielt sie den Leipziger Buchpreis 2009.

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Bild: Berlin Verlag

Der Plot des neuen Romans von Sibylle Lewitscharoff, der aus Stuttgart gebürtigen und in Berlin lebenden Halb-Bulgarin, ist ziemlich schräg. Er verschränkt dreierlei Romane miteinander: Erstens eine Haupt- und Staatsaktion, einen makabren Trauer-Konvoi, um die Urnen von 19 verstorbenen Exil-Bulgaren aus Stuttgart nach Sofia zu überführen, begleitet von den überlebenden Anverwandten. Zweitens eine Reise-Erzählung von der Besichtigungsfahrt zweier Schwestern aus Stuttgart-Degerloch durch das touristische Bulgarien, chauffiert vom titelgebenden Reiseführer Apostoloff. Und drittens eine Familiengeschichte, in deren Zentrum der bulgarische Vater Kristo dieser beiden deutsch-bulgarischen Schwestern steht, der sich mit 43 Jahren erhängt hat, was ihm die jüngere Tochter, die Ich-Erzählerin des Romans, nicht verzeihen kann.

Sibylle Lewitscharoff mischt also die unterschiedlichsten Stimmungslagen, Handlungsstränge und Erzähl-Genres miteinander: eine deutsch-bulgarische Bestattungs-Groteske, eine negative Reise-Reportage in Form einer Bulgarien-Vermaledeiung, ein Vaterhass-Buch (in dem sich naturgemäß ein Buch der enttäuschten Vaterliebe verbirgt), ein Schwestern-Eifersuchtsbuch, eine Familien-Abrechnung, ein Selbsterkundungs- und Selbstverurteilungswerk der Ich-Erzählerin.

Ein äußerst fideles Schandmaul

Preis der Leipziger Buchmesse für Sibylle Lewitscharoff
Sibylle LewitscharoffBild: picture-alliance/ dpa

All dies wird zusammengehalten durch eine singuläre und unverkennbare Erzähl-Stimme. Es spricht die jüngere Schwester auf dem Rücksitz von Apostoloffs Daihatsu, ein äußerst fideles Schandmaul, eine wortstarke Spötterin und redselige lustige Person. Sie höhnt und schmäht, sie schimpft und attackiert, verurteilt, verdammt und verunglimpft, diffamiert und verleumdet – und all dies immer gut gelaunt, mit unfehlbarer Schlagfertigkeit und einer sehr komischen, kunstvoll scheelsüchtigen Verdrossenheit. Nichts ist vor ihrer scharfen Zunge sicher: nicht die stalinistischen Scheußlichkeiten der verunstalteten Schwarzmeerküste, nicht die Absurditäten des Trauer-Kondukts, nicht die Erinnerungen an das Familien-Unglück im spießigen Stuttgart-Degerloch. Sibylle Lewitscharoffs Stellvertreter-Stimme schont nichts und niemanden, allerdings auch nicht sich selbst.

Glaubensfreude, ganz unreligiös

Dies liest sich höchst unterhaltsam, auch wenn man mit fortschreitender Lektüre den entschlossenen Willen der Autorin immer deutlicher bemerkt, sich den Schmerz der Familien-Ereignisse durch virtuose Rhetorik vom Leibe zu halten. Das geistreiche Parlando, der verschmitzte, ziemlich abgefeimte und abgründige Humor sollen einen Kummer verdecken, der nicht eingestanden werden kann. Dass die Autorin ganz nebenbei dem Roman eine ironisch verkappte, ganz unreligiös timbrierte Glaubensfreude und Heilsgewissheit unterjubelt, ist ein Extra-Bonus, der aus «Apostoloff» ein ganz eigentümliches Lesevergnügen macht.

Autorin: Sigrid Löffler

Redaktion: Gabriela Schaaf