1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Löfflers Lektüren

3. Januar 2011

Gisela von Wysockis Roman "Wir machen Musik" ist eine Beziehungsgeschichte zwischen Tochter und Vater. Man kann ihn aber auch als Geschichte der Unterhaltungsmusik im Nationalsozialismus lesen.

https://p.dw.com/p/QlMZ
Buchcover "Wir machen Musik"
Bild: Suhrkamp Verlag

Gisela von Wysocki, Jahrgang 1940, ist Musik- und Theaterwissenschaftlerin und Adorno-Schülerin und pendelt zwischen Literatur und Kulturwissenschaft, Musik, Film und Belletristik. Ihr essayistisches Werk ist groß und vielseitig, sie hat Theaterstücke und Hörspiele geschrieben und viel über Künstlerinnen der Moderne gearbeitet. Mit "Wir machen Musik. Die Geschichte einer Suggestion" legt sie einen stark autobiografisch inspirierten Roman vor.

Es ist die Geschichte der Faszination eines Kindes von seinem zauberhaften Vater, einem erfolgreichen Plattenproduzenten, und dessen magischer Welt der Schallplatten. Das Biografische – die Vater-Geschichte – wird mit einem Stück Musikgeschichte verschränkt, der Unterhaltungsmusik im Nationalsozialismus. Im Mittelpunkt stehen der deutsche Schlager und die Operette der 1920er und 1930er Jahre, die sich bis heute im kollektiven Unbewussten erhalten haben: Viele Lieder sind Evergreens, schon wegen ihrer witzigen, frivolen, manchmal absurden, oft nur albernen Texte.

Gibt es wertfreie Musik?

Der Roman beschwört die 1920er Jahre mit ihrer Leichtlebigkeit und eleganten Weltläufigkeit – eine amüsiersüchtige Epoche von Glücksrittern und Abenteurern. Die Musik passte zum Zeitgeist: Sie gab sich kosmopolitisch locker und leichtsinnig und wollte nichts als gute Laune verbreiten. Der Vater, begabt mit dem sechsten Sinn für das, was die Leute hören wollen, verteidigt die U-Musik in ihrer Seichtheit. War sie aber nicht gerade wegen ihrer angeblichen Wertfreiheit so gut geeignet, von den Nazis vereinnahmt zu werden? Fragt sich, argwöhnisch geworden, die Tochter, als immer mehr jüdische Unterhaltungskünstler verschwinden.

Das "Dritte Reich" als akustisches Phänomen

Arnold Schönberg, österreichischer Komponist. Photographie. Um 1930. Handschriftensammlung der Wiener Stadt- und Landesbibliothek
Strenge Moderne statt seichter Schlager: Die Tochter schätzt Arnold Schönbergs Musik.Bild: picture-alliance / IMAGNO/Wiener

Das Buch ist ein anmutiger und schwereloser Bildungs- und Entwicklungsroman, bestehend aus lauter Prosa-Miniaturen, die an bestimmten Musikstücken festgemacht werden. Das bewundernde kleine Mädchen entwickelt sich zur kritischen Jugendlichen, die statt Schlagern und Chansons nur mehr die strenge Moderne schätzt. Sie lernt begreifen , dass die Unterhaltungsmusik im "Dritten Reich" als Massensuggestion instrumentalisiert wurde: Sie sollte die Massen bei Laune halten und von der Nazi-Politik ablenken.

Das Nazi-Regime ist in diesem elegant verplauderten Roman immer präsent, als Hintergrundgeräusch. Gisela von Wysocki gelingt es, das "Dritte Reich" als akustisches Phänomen zu beschreiben. Hinter dem Leichtsinn und der albernen Vergnügtheit der U-Musik öffnet sich, stets mitgedacht und zumindest angedeutet, der Terror. Je mehr Wissen über die Epoche der Tochter zuwächst, desto mehr verblasst die Vaterfigur, desto wirkungsärmer wird ihr Zauber. Zuletzt verschwindet der Vater fast tonlos aus dem Buch. Gegen Schönbergs Musik, wie die Tochter sie schätzt, können seine Melodien nicht bestehen.

Autorin: Sigrid Löffler

Redaktion: Gabriela Schaaf

Gisela von Wysocki: Wir machen Musik. Geschichte einer Suggestion, Roman, Suhrkamp Verlag. Berlin 2010, 258 Seiten, 22,90 Euro.