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Land der zwei Geschwindigkeiten

Matthias von Hein 18. März 2003

Chinas Volkskongress ist am Dienstag (18.3.) zu Ende gegangen. Er spiegelte die Gegensätze, die in diesem bevölkerungsreichsten Land der Erde herrschen, meint Matthias von Hein in seinem Kommentar.

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Es war Ende Februar, als sich Kubas Staatschef Fidel Castro in Peking angesichts der imposanten Hochhauskulisse verwundert die Augen rieb. Der Erfinder des tropischen Kommunismus erkannte nach acht Jahren Besuchspause in China nichts mehr wieder. Die Berichte über die diesjährige Tagung des Nationalen Volkskongresses dürften Castro allerdings beruhigt haben: Allen äußerlichen Veränderungen zum Trotz - zumindest das politische China ist ganz das alte geblieben.

Willige Sprachrohre

Willig den Regieanweisungen der Kommunistischen Partei folgend, haben die knapp 3000 Abgeordneten des chinesischen Scheinparlamentes die fünf wichtigsten Posten der Volksrepublik an Mitglieder des Politbüros vergeben - zum Teil mit Zustimmungsraten von über 99 Prozent. Sicherlich 'hilfreich' dabei: Für jedes Amt war ohnehin nur ein Kandidat aufgestellt worden. Auch dass die Medien des Landes in exakt gleicher Aufmachung und identischen Texten über die Wachablösung in den höchsten Regierungsämtern berichteten, erinnert an alte Tage.

Mit Staatspräsident Hu Jintao und Ministerpräsident Wen Jiabao hält jetzt die sogenannte vierte Führungsgeneration die Fäden der Macht in den Händen - auch wenn Hus Vorgänger Jiang Zemin als oberster Militärbefehlshaber aus dem Hintergrund noch beträchtlichen Einfluss auf den Gebieten Aussen- und Sicherheitspolitik ausübt. Hu und Wen haben sich in den vergangenen Monaten als Vertreter der Benachteiligten der chinesischen Gesellschaft zu profilieren versucht, als Hüter der Interessen der 800 Millionen Menschen auf dem Land und der wachsenden Zahl von Arbeitslosen.

Wohlstandsgefälle

Immerhin spiegelt sich das Interesse für die Modernisierungsverlierer in dem vom Volkskongress verabschiedeten Haushalt wider. Das Militärbudget darf zwar weiter wachsen - aber mit der niedrigsten Steigerungsrate seit der Niederschlagung der Demokratiebewegung 1989. Dafür sollen die Einkommen der Arbeiter und Bauern steigen. Die Überwindung des krassen Wohlstandsgefälles zwischen Stadt und Land, zwischen reicher Ostküste und armen Inlandsprovinzen gehört zur Hauptaufgabe der neuen Regierung. Wenn in Schanghai der Transrapid schwebt, in der Provinz Guizhou aber ein Viertel der Dörfer noch nicht einmal an das Straßennetz angeschlossen ist, verheißt das nichts Gutes für die Stabilität des Landes.

Um das Wohlstandsgefälle zu verringern und den aus unrentablen Staatsbetrieben entlassenen Menschen neue Jobs zu verschaffen, braucht das Land weiter ein hohes Wirtschaftswachstum. Dafür trennt sich die chinesische Führung in bemerkenswerter Konsequenz von den Relikten der früheren Planwirtschaft. Deutlich wird das an der verabschiedeten Regierungsreform. Die folgt den Weichenstellungen der letzten Regierung unter Ministerpräsident Zhu Rongji. Der jetzt unter viel Applaus zurückgetretene Zhu hatte in der letzten Legislaturperiode in einem beispiellosen Kraftakt die Zahl der Ministerien von 40 auf 29 zusammengestrichen und die Bürokratie um 20 Prozent abgeschmolzen. Jetzt wird die Zahl der Ministerien weiter auf 28 reduziert und sie bekommen einen neuen Zuschnitt. Mit der neuen Bankenkommission, mit dem neuen Handelsministerium und der Entwicklungs- und Reformkommission an Stelle der alten Planungskommission wird die Aufgabenverteilung des chinesischen Kabinetts westlichen Vorbildern vergleichbar.

Machtmonopol

Doch bei allen Veränderungen bleibt eines bestehen: Am Machtmonopol der chinesischen Kommunistischen Partei wird nicht gerüttelt. Li Peng rief bei seiner Abschiedsrede als Parlamentspräsident die Abgeordneten dazu auf, stets loyal der Führung der KP zu folgen und einen "sozialistischen Rechtsstaat mit chinesischen Charakteristiken" aufzubauen. Auch wenn niemand weiß, was einen Rechtsstaat sozialistisch macht - was die "chinesischen Charakteristiken" sind, weiß man nur zu genau: Massenhafte Verhängung der Todesstrafe bei fragwürdigen Prozessen und ebenso massenhafte Verhaftung von Menschen, die lediglich von ihrem in Artikel 35 der chinesischen Verfassung garantierten Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch machen.

Zu den vielen Zahlen, die auf dem Nationalen Volkskongress vorgetragen wurden gehört auch eine vom Präsidenten des Obersten Gerichtshofes: Voriges Jahr sind 3402 Menschen wegen Gefährdung der nationalen Sicherheit verhaftet worden. "Gefährdung der nationalen Sicherheit" - das ist genau der Vorwurf, der auch Arbeiteraktivisten, Dissidenten und Journalisten gemacht wird. Zur Zeit sind mindestens 39 Journalisten in China in Haft.