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Schlangestehen vor dem Passamt

Emran Feroz 22. Oktober 2015

Durch die jüngsten Gefechte in Kundus und anderen Teilen Afghanistans nimmt die Zahl der afghanischen Flüchtlinge stark zu. Die meisten von ihnen haben Europa als Ziel vor Augen.

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Afghanistan Warteschlange vor dem Passamt in Kabul
Bild: Getty Images/AFP/S. Marai

Die Schlange vor dem Passamt in Kabul ist auch am heutigen Morgen lang. Manche Menschen sind sogar kurz nach Mitternacht aufgetaucht, um sich einen Platz zu sichern. Die meisten haben dasselbe Ziel: Sie wollen raus aus Afghanistan. Dafür brauchen sie, am Anfang zumindest, einen neuen Reisepass, den viele Afghanen nicht haben. Der alte, handgeschriebene Pass wurde vor einiger Zeit für ungültig erklärt. Dieser war leicht zu fälschen, während der neue biometrische Pass die Identität des Besitzers leichter überprüfbar machen soll. Warum allerdings gerade jetzt ein neuer Pass eingeführt wurde - das fragen sich viele Menschen. Die Regierung steht in der Kritik.

So schlägt die Regierung sogar aus den Flüchtlingen noch einen letzten Profit", beschwert sich ein älterer Mann in der Schlange. Für den durchschnittlichen Afghanen kostet der neue Pass mit rund 5000 Afghani (etwa siebzig Euro) ein kleines Vermögen. Nicht alle können sich einen Pass überhaupt leisten. Einige der Anwesenden habe ihre Flucht aus Afghanistan schon genaustens geplant. "Ich will zuerst in die Türkei fliegen. Von dort aus reise ich dann irgendwie weiter nach Europa", meint etwa der 19-jährige Faisal, der in Kabul Informatik studiert. Sein Ziel ist Schweden, wo Verwandte von ihm leben. "Hier gibt es weder Arbeit noch Sicherheit. Dass viele Menschen raus wollen, ist doch verständlich", fügt er hinzu.

Der neue Pass ist aber auch nicht automatisch ein Türöffner in die weite Welt. Mit dem afghanischen Reisepass ist eine Einreise in viele Länder ohne Visum oder anderweitige Papiere kaum möglich. Vor allem westliche Botschaften in Kabul vergeben kaum Visa. Für die meisten Afghanen kommt deshalb nur eine Ausreise in die Türkei, in den Iran oder nach Pakistan infrage. Diese Länder gelten als Sprungbrett für die Weiterreise nach Europa.

Afghanistan Warteschlange vor dem Passamt in Kabul
Moderner Pass mit geringer Reichweite: Aufnahme eines digitales Passbilds für den biometrischen PassBild: Getty Images/AFP/S. Marai

Extremisten auf dem Vormarsch

Nach Angaben der UN wurden allein im ersten Halbjahr 2015 mindestens 5000 Zivilisten in Afghanistan getötet. Im Norden des Landes, vor allem in der Region um Kundus, dessen gleichnamige Provinzhauptstadt Ende September von Taliban-Kämpfern zeitweilig erobert wurde, wird heftig gekämpft. Auch in vielen anderen Gebieten sind die Extremisten auf dem Vormarsch. Zum gleichen Zeitpunkt nehmen die Berichte über Zellen des sogenannten "Islamischen Staates" (IS) im Osten Afghanistans zu.

"Die schlechte Sicherheitslage, vor allem im Hinblick auf Kundus sowie die hohe Arbeitslosigkeit führen mittlerweile zu einem wahren Exodus. Aufgrund der jüngsten Ereignisse in Europa haben sich viele Menschen Länder wie Deutschland, Großbritannien oder Schweden zum Ziel erklärt", meint etwa Waheed Mozhdah, ein politischer Analyst aus Kabul.

Eine ähnliche Ansicht vertritt auch Nicolas Haysom, Vorsitzender der UN-Mission für Afghanistan. "Ohne Zweifel blicken viele Afghanen bedrückt in die Zukunft", meint er und hebt die angeschlagene Wirtschaft sowie die problematische Sicherheitslage hervor.

Junge Afghanen wie Faisal, der ungeduldig vor dem Passamt wartet, fliehen allerdings nicht nur vor dem Krieg, sondern auch vor der Korruption. Transparency International zählt Afghanistan weiterhin zu den korruptesten Staaten der Welt. "Mein Onkel war Polizist und wollte sich an den kriminellen Machenschaften seiner Kollegen nicht beteiligen. Am Ende haben sie ihn deshalb getötet", meint etwa Faisal.

Warteschlange vor dem Passamt in Kabul (afp)
Warteschlange vor dem Passamt in KabulBild: Getty Images/AFP/S. Marai

Tausende wollen einen Pass

Vor den Gefechten in Kundus gab das Passamt an, täglich etwa 2000 Pässe ausgestellt zu haben. Nun soll sich laut der Behörde diese Zahl verdreifacht haben. Mittlerweile sind etwa 100.000 Menschen aus Kundus geflohen. Viele von ihnen leben nun in Kabul. "Wir sind bei Verwandten untergekommen. Die Lage in Kundus ist weiterhin gefährlich. Auf Zivilisten nimmt dort niemand Rücksicht, weder die Taliban noch die Soldaten der afghanische Armee oder die Amerikaner", meint etwa der 41-jährige Haseeb, der mit seiner Frau und seinen drei Kindern geflohen ist und nun ebenfalls einen neuen Pass beantragen will.

Um dem Exodus der jungen Leute etwas entgegen zu setzen, hat die afghanische Regierung eine Kampagne gestartet. Mit dem Slogan "Geh nicht, bleib hier. Es könnte keine Rückkehr geben!", wendet sich die Regierung medial direkt an die Betroffenen. Zusätzlich zur Regierungskampagne hat sich in den Sozialen Netzwerken eine weitere, eigenständige Aktion namens "Afghanistan braucht dich" gebildet. Deren Unterstützer verbreiten Fotos von sich, auf denen sie mittels Plakaten an die Menschen appellieren, nicht das Land zu verlassen.

Taliban Kämpfer in Kundus
Talibankämpfer (2. v. li.) am 29. September auf den Straßen von KundusBild: Reuters

Aufrufe der Regierung zu bleiben

Auch der ehemalige Präsident Afghanistans, Hamid Karzai, richtete sich an die Bürger und forderte diese auf, im Land zu bleiben und es wiederaufzubauen. Zusätzlich haben sich zivilgesellschaftliche Aktionen gebildet, um die Menschen von der Auswanderung abzuhalten.

"Wir bieten jungen Leuten Fortbildungen an und versuchen, ihnen Arbeits- oder Studienplätze z zu vermitteln. Durch Kontakte zu privaten Universitäten wollen wir ihnen auch Stipendien im In- und Ausland verschaffen“, meint etwa Modaser Islami von der 'Afghan Society of Muslim Youth'.

Die Bevölkerung nimmt den Aktionismus mit Skepsis auf. "Was soll diese Aktion? Politiker wie Karzai haben jahrelang ihre Taschen gefüllt. Sie haben keine Ahnung von unseren Problemen", meint etwa der aus Kundus geflohene Haseeb. "Viele Verwandte von Präsident Ashraf Ghani leben doch in den USA. Warum kommen die nicht zurück?", fragt er.

"Die Worte jener Politiker, die im Grund genommen für unsere miserable Lage verantwortlich sind, kann man doch nicht ernst nehmen“, meint auch der 35-jährige Abdul Hakim wütend. Er wartet ebenfalls auf seinen Pass und hat vor in den Iran zu reisen. Wie seine Flucht dann weitergehen wird, weiß er noch nicht.

Die Ärmsten der Armen bleiben sich selbst überlassen. "Ich habe kein Geld, um zu flüchten“, meint der 19-jährige Reza, der nahe der Passbehörde Passbilder und Kopien anbietet. Dann fügt er lächelnd hinzu: "Es sieht zwar schlecht aus, aber wir können nur hoffen, dass die Lage sich irgendwann verbessert."