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Leben im Reich der Toten

14. Mai 2009

In den 70er Jahren war Kairos Totenstadt ein beliebter Treffpunkt für Intellektuelle. Heute sind weit mehr Menschen dazu gezwungen, das Leben unter den Toten zu suchen: Kairos akute Wohnungsnot treibt sie dazu.

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Blick auf „Qait Bey“ – ein Teil der Totenstadt Kairos. Quelle: Arian Fariborz
Gräber, so weit das Auge reichtBild: Arian Fariborz

Sie fällt schon von weitem ins Auge – z.B. während der Fahrt auf einer der hoffnungslos überfüllten Stadtautobahnen am Rande Kairos. Langsam rückt sie näher: eine beeindruckende Silhouette aus ockerfarbenen Kuppeln und Minaretten. Es ist ein gigantisch großes Areal, das dort inmitten der Megametropole mit ihren rund 18 Millionen Einwohnern liegt: Kairos Totenstadt, die sich insgesamt über rund 10 Kilometer von Norden nach Süden erstreckt.

Angekommen an einem der Zufahrten des Friedhofs eröffnet sich dem Besucher ein enges, staubiges Gassenlabyrinth. Straßenschilder sind hier Fehlanzeige. Man verliert schnell die Orientierung in dem Gewirr aus flachen, grob verputzten Ziegelsteinbauten - Familiengruften mit geräumigen Innenhöfen, in denen bunt verzierte Grabsteine über den Toten trohnen. Von Friedhofsruhe kann hier indes keine Rede sein: Zwischen den Grabtafeln tollen Kinder, hängen Frauen Wäsche auf, Männer halten auf einem Mausolumseingäng ein Schwätzchen. Vielschichtig und bunt ist das Leben im Reich der Toten.

Traditionsreiche Totenstadt

Sarkophag eines bekannten Khediven in Qait Bey Totenstadt in Kairo Ägypten. Quelle: Arian Fariborz
Auch Kairos Noblesse lässt sich hier nieder - allerdings erst nach dem TodBild: DW / Arian Fariborz

Kairos Nekropole blickt auf eine jahrhunderte lange Geschichte zurück: Einst ließen die wohlhabenden und einflussreichen Persönlichkeiten der muslimischen Herrscherdynastien dort ihre prachtvollen Mausoleen errichten. Namhafte Regenten der Mamlukken, Osmanen und Khediven fanden in Ägyptens Totenstadt ihre letzte Ruhe.

Doch mit dieser Grabesstille war es spätestens im 20. Jahrhundert vorbei, als im Zuge des Sechstagekrieges von 1967 viele Ägypter nach Kairo flohen, auf der Suche nach einem Ausweichquartier. Als in den darauf folgenden Jahrzehnten die Landflucht vor allem aus der Suez-Region nach Kairo einsetzte, suchten zahlreiche Menschen in der Totenstadt Unterschlupf.

Die damalige Wohnungsnot machte viele von ihnen erfinderisch. Mit dem Leben im Reich der Toten konnten sie sich arrangieren. Viele Innenhöfe und Grabkammern sind sehr geräumig und auch die Mieten sind halbwegs erschwinglich– sofern sie überhaupt an die Eigentümer der Familiengräber gezahlt werden müssen. Wie viele Menschen heute in Kairos Nekropole leben, ist ungewiss – die Schätzungen reichen von 30.000 bis hin zu einer Million.

Folgen der Wohnungskrise

Kairos Riesenfriedhof hat längst seinen einzigartigen Charme als Oase der Ruhe verloren. Die Wohnungskrise hält die Mega-City Kairo nach wie vor in Atem – obwohl in den vergangenen beiden Jahrzehnten am Rande der Ballungszentren zahlreiche neue Wohngebiete errichtet wurden.

Die Einwohner der Totenstadt leben jedoch lieber hier, mitten in der Stadt, als in einer neuen Wohnsiedlung am Rande der trostlosen Wüste. Allerdings: Baugenehmigungen existieren bis heute in dem informellen Wohnviertel nicht. Wohnraumerweiterungen und Anbauten zwischen Grabsteinen und Familiengruften werden nach Belieben durchgeführt. Und eine flächendeckende Wasser- und Stromversorgung ist bis heute nicht gewährleistet. Und auch Briefe, Postpakete und Kurierdienste finden in diesem Stadtteil ohne Straßennamen nur selten ihren Weg.

Refugium für Schriftsteller und Oppositionelle

Mann mit Wasserpfeife. Quelle: AP
Die Hashcafes der Totenstadt waren ein beliebtes Zeil für IntellektuelleBild: AP

Doch trotz dieser Missstände bleibt Kairos Totenstadt lebendig, vielseitig und ungewöhnlich. Bereits in den 70er Jahren, in Zeiten politischer Umbrüche am Nil, entwickelte sich die Nekropole zu einem Treffpunkt für Dissidenten. „Es gab eine Gruppe von Intellektuellen, die sich über mehrere Jahre hier in der Totenstadt traf“, erzählt der Publizist Yassir Abdel Latif, der über das Leben in der Totenstadt einen Dokumentarfilm gedreht hat. „Einer von Ihnen – der bekannte Schriftsteller Mahmoud el-Wardani – stellte die Theorie auf, dass sich die Kulturschaffenden hier versammelten, um den Repressionen und Einschränkungen unter dem damaligen Präsidenten Sadat zu entfliehen.“

Autor: Arian Fariborz

Redaktion: Mahmoud Tawfik