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Leben wie ein Roman

16. März 2004

Die Analphabetenquote liegt in Somalia bei rund 75 Prozent. Das Land hat aber auch einen Autor hervorgebracht, der seit einiger Zeit für den Literaturnobelpreis im Gespräch ist - ein Porträt von Nuruddin Farah.

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Einst zum Tode verurteilt: Nuruddin FarahBild: dpa

Gestern war Somalia ein kolonisiertes Land, von Briten, Franzosen, Italienern besetzt und auf dem Reißbrett aufgeteilt. Heute ist es eines der ärmsten Länder der Welt, in dem nach jahrzehntelanger Diktatur noch immer ein blutiger Bürgerkrieg tobt. Die Analphabetenquote liegt bei mehr als 75 Prozent. Somalia ist das Heimatland von Nurrudin Farah, einer der "weisesten Stimmen der modernen Literatur", wie die renommierte "New York Book Review" meint. Der 1945 geborene Autor wird seit langem als Anwärter auf den Literaturnobelpreis gehandelt, bei uns ist sein Werk aber immer noch fast unbekannt - obwohl seine zahlreichen Romane in 15 Sprachen übersetzt sind und weltweit in angesehenen Verlagshäusern herauskommen.

In Abwesenheit zum Tode verurteilt

Farahs Lebensgeschichte wirkt selbst wie ein Roman: Der Großvater war nomadischer Geschichtenerzähler, der Vater Dolmetscher des britischen Gouverneurs. Farah selbst ging aus Somalia zum Studium der Philosophie und der Literaturwissenschaften nach Indien. Anfang der siebziger Jahre wurde er aus der Sowjetunion ausgewiesen, wo er einen Essay über Dostojewski hatte schreiben wollen und heimlich Solschenizyn zu treffen versuchte. Seit 1975 lebt er ein Nomadenleben im Exil: Damals beschloss er, von seinem Studienort England nicht in seine Heimat Somalia zurückzukehren, da mit Repressalien des damaligen Militärregimes von Siyaad Barre zu rechnen war. Eine weise Entscheidung: 1979 lässt der Diktator den bereits damals angesehenen Romancier in Abwesenheit zum Tode verurteilen. Da aber hat Farah schon längst seine Odyssee durch die weite Welt angetreten: ein Lehrauftrag an der Universität Bayreuth, Wohnungswechsel von Nigeria nach Gambia, vom Sudan nach Uganda, in der Zeit des Mauerfalls Aufenthalt in Berlin und nach der Zwischenstation Nigeria schließlich im Jahre 1999 der Umzug nach Kapstadt

Zornige Anklage

Farah gilt heute als eine der angesehensten literarischen Stimmen Afrikas. Er ist Träger verschiedener angesehener Literaturpreise und wird von Kollegen wie Salman Rushdie und Nadine Gordimer in höchsten Tönen gepriesen. 2003 erhielt er für sein erstes Sachbuch, den Reportageband "Yesterday, Tomorrow - Stimmen aus der somalischen Diaspora" den zweiten Preis beim "Lettre-Ulysses" für die beste literarische Reportage der Welt: Es ist ein Kaleidoskop von Interviews über das Leben von Somalis, die als Flüchtlinge nach England, Italien und in die Schweiz gekommen sind. Es ist eine gleichzeitig zornige Anklage gegen das Clan-System und die hemmungslose Selbstbereicherung der Eliten, die Somalia in Anarchie und Terror getrieben haben.

Farahs eigentliche Form aber ist der Roman. Auch sie beschäftigen sich sämtlich mit Geschichte und Gegenwart seines Heimatlandes. Häufig geht es dabei um afrikanische Identität, Diktatur und die traditionellen Werte des islamisch geprägten Somalia. "Variationen über eine afrikanische Diktatur" hieß die erste, inzwischen komplett auf Deutsch vorliegende Trilogie, die im englischen Original zwischen 1979 und 1983 erschienen ist: "Bruder Zwilling", "Tochter Frau" (in dem er mit der in Somalia gängigen Praxis der Klitoris-Beschneidung abrechnet) und "Vater Mensch".

Subversive Kraft des Weiblichen

Auf die erste Trilogie folgt in den Jahren 1986 bis 1998 eine zweite, die Farah "Blood in the Sun" nennt: "Maps", "Gifts" und "Secrets". "Secrets" (deutsch: "Geheimnisse") wurde mit einer euphorischen Rezension in der "New York Times" bedacht. Wie häufig bei Farah ist es ein "Frauen-Roman". Dem Weiblichen als subversive Kraft in der patriarchalen Ordnung Somalias gilt schon seit seinem Debüt "From a Crooked Rib" (deutsch: "Aus einer gekrümmten Rippe", 1970) Farahs besonderes Augenmerk. Frauen treten in seinen Romanen als Opfer Jahrhunderte alter Strukturen auf, die, wie Farah betont, keineswegs allein dem Kolonialismus anzulasten sind. Vor allem aber sind es Frauen, die versuchen aufzubegehren, ihren eigenen Weg gehen.

Farah gilt deswegen nicht zu Unrecht als Anwalt der afrikanischen Frau. "Als Macho tauge ich wirklich nicht", sagt der polyglotte Farah - und führt dies mit feiner Ironie nicht zuletzt auf seine eigene Frau zurück. Sie lehrt an der Universität Kapstadt Genderstudies. (sams)