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Die Erde schreit

Das Interview führte Geraldo Hoffmann9. Mai 2007

Papst Benedikt XVI. besucht vom 9. bis 13. Mai Brasilien - das "größte katholische Land der Welt". DW-WORLD sprach aus diesem Anlass mit dem brasilianischen Befreiungstheologen Leonardo Boff.

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Leonardo Boff
Der Theologe Leonardo BoffBild: Leonardo Boff

DW-WORLD.DE: Was erwartet den Papst in Brasilien? Wie ist die Situation der Kirche dort?

Leonardo Boff: Die Kirche Brasiliens steht vor großen Herausforderungen. Zunächst einmal die soziale Herausforderung: Es sind über 40 Millionen Menschen, die noch hungern, die am Rande der Gesellschaft stehen. Und es gibt den ökologischen Alarm. Das Agrobusiness, die großen Soja-Plantagen, die Rinderfarmen usw. zerstören die Wälder. Das Volk und die Kirche selbst haben allmählich ein Bewusstsein entwickelt, dass es so nicht weitergehen kann. Die Weltproblematik der Erderwärmung hat für uns Konsequenzen. Es gibt Ernteausfälle, die Temperatur ist angestiegen, es herrscht Trockenheit im Nordosten, große Überschwemmungen im Süden … Da spürt man, das etwas mit der Erde nicht läuft. Und dass wir zuständig und verantwortlich für diese neue Situation der Erde sind. Und wir hoffen, dass der Papst gerade diese Thematik behandelt und die Kirche ermutigt, dieses Thema in ihrer Pastoral aufzunehmen.

Am 13. Mai eröffnet der Papst die 5. Generalversammlung des Rates der lateinamerikanischen Bischöfe (CELAM) in Aparecida, wo 500 Bischöfe und Kirchenvertreter über die kirchlichen und sozialen Herausforderungen Lateinamerikas diskutieren werden. Welche Botschaft erwartet man dort vom ihm?

Wallfahrtskirche in Aparecida, Quelle: AP
Wallfahrtskirche in AparecidaBild: AP

Die Kirche ist gebaut auf das Fundament der Propheten und der Apostel, wie Paulus sagt. Sie hat eine petrinische und eine paulinische Basis. Also Petrus bedeutet die Tradition, die Kontinuität. Paulus, die Zäsur, die Neuheit. Ich hoffe, dass der Papst einen Ausgleich zwischen beiden macht, aber mit mehr Betonung auf die prophetische Richtung. Aus dieser Option heraus könnte man unsere Problematik besser verstehen und dann etwas verkünden, dass uns tatsächlich ermuntern würde, gegen die Armut, für die Armen, für die integrale Befreiung einzutreten, so dass diese Linie, welche die Kirche Lateinamerikas vor 40 Jahren übernommen hat, bekräftigt und weitergeführt werden kann.

Nach den Konferenzen von Medellín 1968 zum Thema Befreiung und Puebla 1979, könnte also in Aparecida die Ökologie als neues Leitthema für das Engagement der lateinamerikanischen Kirche hervorgehen?

Jetzt ist gerade die ökologische Frage aktuell. Wir interpretieren es so: Das Wesentliche der Befreiungstheologie ist die Option für die Armen gegen die Armut. Aber heute wissen wir, dass nicht nur die Armen, die Frauen, die indigene Bevölkerung schreien, sondern die Erde schreit. Innerhalb der Option für die Armen muss die Erde mit eingeschlossen werden. Weil sie ausgenutzt wird und befreit werden muss. Diese Thematik ist weltweit wichtig. Brasilien ist, ökologisch gesehen, irgendwie ein Gleichgewicht für das Klima in der Welt. Was hier geschieht, hat Konsequenzen für das ganze Weltsystem. Es wäre wichtig, wenn die Kirche dafür ein Bewusstsein ihrer Verantwortung erwecken könnte.

Der erste Besuch Joseph Ratzingers in Brasilien fand 1985 statt, kurz nachdem er Sie zum Schweigen gebracht hatte. Diesmal steht die Theologie der Befreiung offiziell nicht auf der Tagesordnung. Ist sie nicht mehr aktuell?

Die Befreiungstheologie ist wichtig in allen Diözesen und Kirchen, wo die Frage der Gerechtigkeit eine zentrale Rolle spielt. Da ist die Befreiungstheologie Orientierungspunkt. Tatsache ist, dass diese Theologie weiterhin präsent und lebendig ist, aber nicht mehr so sichtbar wie früher, als sie noch eine polemische Theologie war. Beim Weltsozialforum in Porto Alegre und in diesem Jahr in Nairobi gab es ein Weltforum der Befreiungstheologie mit 300 Vertretern aus allen Kontinenten. Da konnte man spüren, wie lebendig und aktuell diese Theologie noch ist.

Vor der diesjährigen Konferenz am 14. März wurde zum ersten Mal in der Amtszeit Papst Benedikts XVI. ein Befreiungstheologe gemaßregelt. War das ein Signal aus Rom, wohin es bei der CELAM-Konferenz gehen soll?

Der Befreiungstheologe Jon Sobrino, Quelle: DPA
Vom Vatikan gemaßregelt: der Befreiungstheologe Jon SobrinoBild: picture-alliance/ dpa

Das glaube ich nicht. Meines Erachtens hat der Papst nichts damit zu tun. Die drei lateinamerikanischen Kardinäle, die der römischen Kurie angehören und sehr konservativ sind, haben sich vorgenommen, Theologen richtig zu verfolgen. Diese Kardinäle wollten irgendwie den Weg für den Papst frei machen. Aber diese Zensur kam sehr schlecht an. Einer der besten Theologen Lateinamerikas so anzugreifen, ist für diese Kardinale und für die Römische Kirche eine Schande.

Ist der Papst inzwischen offener für die Theologie der Befreiung als es der konservative Klerus in Lateinamerika ist?

Der Papst hat die Sache Befreiungstheologie bereits 1986 abgehakt. Er kam nie wieder auf das Thema zurück. Die Kirche hat gesagt, was sie sagen wollte und Richtlinien erlassen. Aber hier und da spürt man, und ich vermute, Rom selbst weiß es, dass der Kampf gegen die Befreiungstheologie nicht gelungen ist. Weil diese Theologie überall präsent ist, zumal die Armut in der Welt, die Problematik der Ausbeutung der Erde weitergeht. Und gerade diese Theologie ist die geeignete, um eine Antwort auf diesen Fragen und Herausforderungen zu geben.

In seinem Buch "Jesus von Nazareth" erteilt Ratzinger dem "politischen Jesus" und somit der "politisierten Kirche" eine Absage. Ist das auch eine Abmahnung an politisch engagierten Katholiken in Lateinamerika?

Buchcover: Joseph Ratzingers "Jesus von Nazareth", Quelle: AP
Theologisches Porträt Jesu von Joseph RatzingerBild: AP

Ob man will oder nicht, das Leben Jesu hatte eine politische Dimension. Er ist ans Kreuz geschlagen worden, aufgrund seiner Tätigkeit, seiner Option für die Armen, seiner Konfrontation mit den religiösen Strömungen der damaligen Zeit. Deshalb hat er eine eindeutig politische Dimension. Wenn man diese politische Dimension nicht sieht, sieht man den historischen Jesus nicht und mythisiert die Figur Jesu Christi.

CELAM-Sprecher David Gutierrez sagte kürzlich, dass die soziale Ungleichheit trotz linksgerichteter Regierungen in vielen Ländern Lateinamerikas zugenommen hat. Was sollte der Papst bei seinem Treffen mit Lula dem brasilianischen Präsidenten ins Gewissen reden?

Es ist wichtig zu sagen, dass etliche Minister der Regierung Lula aus der Befreiungstheologie kommen und dies auch öffentlich zugeben. Lateinamerika ist der ungleichste Kontinent der Welt. Afrika ist ärmer aber nicht so ungleich wie Lateinamerika. Und deswegen, wenn der Papst diese Frage nicht behandelt, geht er etwas sehr wichtigem aus dem Weg. Und wir hoffen, dass er ein Ohr für diese Verdammten der Erde hat.

Es soll ja - wie es heißt - eher eine pastorale denn eine politische Reise werden. Eine der großen Sorgen der katholischen Kirche Lateinamerikas - besonders in Brasilien - ist der Mitgliederverlust und der Zuwachs der Pfingstkirchen. Wie reagiert die Kirche darauf?

Die Kirche läutet Alarmglocken, weil in Brasilien jährlich ein Prozent der Katholiken die Kirche in Richtung Pfingstkirchen verlassen. Ich persönlich finde, dass die Kirche daran selbst Schuld ist, weil ihre Struktur zu hierarchisch ist. Die Innovation in der Liturgie ist verboten. Neue Formen des Zugangs zum Volke wurden sehr kontrolliert. Die ganze Lehre ist dogmatisch aufbereitet. Diese Situation führt dazu, dass viele Katholiken sich in ihrer Kirche nicht mehr heimlich fühlen und einen anderen, zugänglicheren Ausdruck des Glaubens suchen.

Was sagen Sie zu dem Vorwurf, die Theologie der Befreiung sei für die Kirchenaustritte mitschuldig, da sie sich zu sehr um die Politik und zu wenig um die Seelsorge gekümmert habe?

Das ist die Rede der Gegner der Befreiungstheologie. Die meisten von ihnen haben nicht einmal eine Zeile dieser Theologie gelesen. Statistisch gesehen, ist es so, dass da wo die Befreiungstheologie angewendet wird, die meisten Katholiken in der Kirche bleiben. Wo die Basisgemeinde verboten werden, wie in Rio de Janeiro, haben die Pfingstkirchen einen großen Zuwachs erfahren. Es ist nicht so, dass die Befreiungstheologie nur Politik macht. Die einzigen Theologen, die hier über Spiritualität, Gebet, Kontemplation usw. schreiben sind wir, die Befreiungstheologen.

Der Papstbesuch soll ja auch dazu dienen, das Selbstbewusstsein der Katholiken zu stärken. Damit sie zum Beispiel noch offensiver gegen den Trend zur Legalisierung der Abtreibung in Lateinamerika auftreten. Mexiko hat im vergangenen Monat - trotz Protesten aus Rom - die Abtreibung legalisiert. Kann die Kirche diesen Trend noch aufhalten?

Die Frage der Abtreibung ist eine geschlossene Frage für die Weltkirche. Die Kirche ist entschieden gegen Abtreibung und für das Leben der Kinder. Das ist eine offizielle Lehre und Entscheidung der Weltkirche, und jeder Bischof, Theologe oder Pfarrer muss sich dem unterordnen. Ich meine, dass in einer demokratischen Gesellschaft die Kirche das Recht hat, sich dazu zu äußern, dafür zu kämpfen, aber zugleich muss sie die andere Position auch respektieren. Und wenn - wie neuerdings in Portugal, in Spanien oder im katholischen Polen - die Abtreibung vom Staat und der Gesellschaft angenommen werden, muss die Kirche versuchen, die Missstände zu vermindern und die Menschen, die abtreiben wollen, begleiten, wie es in Deutschland gemacht wird, damit diese sich darüber richtig Gedanken machen und eine Option für das Leben ins Zentrum ihrer Entscheidung rücken.