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Lettland: Die letzten livischen Gesänge?

Christiane Wolters (August 2007)

Es gibt eine Sprache, in der man zu Ostern die Vögel aus dem Winterschlaf wecken kann - nach Jahrhunderte alter Tradition. Aber nur noch sehr wenige Menschen sprechen diese Sprache - sie ist vom Aussterben bedroht.

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Stadtansicht Riga
Die lettische Hauptstadt RigaBild: picture-alliance/ dpa

Bei gerade einmal 140 Einwohnern Lettlands steht noch die Bezeichnung "Livisch" im Pass. Die Liven waren ein Fischervolk, das einst Gebiete des heutigen Lettlands bevölkerte. Doch über die Jahre wurden sie immer weniger. Die Liven mischten sich mit den Letten oder verließen aufgrund von Kriegen und Epidemien ihre Dörfer. Und auch ihre eigene Sprache benutzten sie immer seltener, meistens nur noch zu Hause in der Familie. Heute gibt es vielleicht noch fünf hoch betagte Muttersprachler - so ganz genau weiß das niemand.

Vögel wecken nach altem Brauch

Die Altstadt von Riga
Auf den Straßen Rigas ist Livisch nur noch selten zu hörenBild: transit-Archiv

Aber noch gibt es sie: Kulturgruppen oder Chöre, die die alten livischen Lieder singen. An Ostern zum Beispiel. "Nach der livischen Mythologie fliegen die Vögel nicht nach Süden, um zu überwintern. Sie bleiben hier, verstecken sich und schlafen", erzählt Soja Zilje. "Ostern gehen wird dann ans Meer, stellen eine Tanne am Strand auf und schmücken sie. Dann werden die Vögel mit einem Lied von uns geweckt."

Zoja Silje ist Lettin. Aber sie ist auch Livin - im Herzen und im Blut. Für ihren Großvater war Livisch noch die Muttersprache. Sie selbst hat in den 70er Jahren als Studentin angefangen, die Sprache ihrer Vorfahren zu lernen. Seitdem singt sie auch in einem livischen Chor. Damals mussten sie noch jedes Lied ins Russische übersetzen und genehmigen lassen. Denn kulturelle Besonderheiten und eigene Bräuche waren im Riesenreich Sowjetunion nicht gern gesehen.

Zaghafte Wiedergeburt einer totgeglaubten Sprache?

Zoja unterrichtet auch Livisch; gerade ist ihr neuestes Lehrbuch erschienen. Livisch gehört nicht wie das Lettische zur baltischen, sondern zur finno-ugrischen Sprachgruppe. Dementsprechend unterschiedlich klingen beide Sprachen.

Es gibt zahlreiche Unterschiede in der Grammatik. Vor allem aber manche der 45 livischen Buchstaben sind für lettische Ohren fremd und schwierig auszusprechen. Trotzdem erlebt die livische Sprache seit einigen Jahren so etwas wie eine kleine Wiedergeburt. Sogar einige junge Letten wollten die Sprache lernen, wundert sich Zoja Silje: "Eigentlich hat das keinen praktischen Sinn. Doch manche Jugendliche finden es zum Beispiel schick, sich auf Livisch eine SMS zu schreiben."

Mode oder Tradition?

Karte Riga Lettland
Bild: AP Graphics/DW

Linda, Davis, Beate, Katrina und Alma zum Beispiel. Sie sind in einer livischen Jugendgruppe, die sich regelmäßig in der Blaumana Straße in Riga trifft. Dort ist das Ministerium für Soziale Integration, das ihnen einen Raum zur Verfügung stellt. Das Livisch der Jugendlichen ist unterschiedlich gut. Manche lernen es erst seit einigen Monaten, andere haben es als Kinder mit ihren Großeltern gesprochen, die inzwischen tot sind.

Die siebzehnjährige Beate hat vor zwei Jahren angefangen. Sie ist die einzige aus ihrer Familie, die sich für die livische Kultur und Sprache interessiert. Die Frage, warum sie nicht lieber eine lebende Sprache lernt, hat sie schon oft gehört. "Warum muss man immer mit der Mode gehen und zum Beispiel Spanisch lernen? Ich möchte die Sprache meiner Vorfahren lernen, damit sie nicht ausstirbt", sagt sie bestimmt. Das habe auch etwas mit der Mentalität zu tun.

Ein Weg zur Selbstfindung

Und wohl auch etwas mit der Suche nach Identität, meint Valts Ernstreits. An ihm kommt niemand vorbei, der etwas über die Liven in Lettland erfahren will. Er hat in Estland und Lettland geforscht, seine Doktorarbeit über das Livische geschrieben und ist gerade dabei, eine Internetseite mit livischen Inhalten zu entwickeln. "Die lettische Identität ist sehr komplex", erklärt Ernstreits. "Unsere Geschichte ist so jung, als Letten definieren wir uns erst seit 500 Jahren. Wenn man aber sagt, man ist Livisch, dann kann man seine Wurzeln bis zum 12. Jahrhundert zurückverfolgen."

Beate erzählt fast ein wenig stolz, dass ihre Freunde nicht wirklich verstehen, was dieses ganze Getue mit der livischen Identität auf sich hat. Livisch sein scheint etwas Besonderes für die Jugendlichen zu sein. Etwas, womit sie sich auch abgrenzen können. Manchmal organisiert die Jugendgruppe Fahrten nach Mazirbe an die lettische Küste, wo ein livisches Kulturhaus steht. Oder Ferien-Camps, in denen sie sich auf Livisch unterhalten oder singen können.

Wie sprechen ohne Muttersprachler?

Alte Frauen in der Tracht der Suitu Sievas
Lettische Traditionen: Alte Frauen in der Tracht der Suitu SievasBild: dpa

Die lettische Regierung unterstütze solche Aktivitäten, sagt Lilita Kalnaja vom Ministerium für soziale Integration. Seit einigen Jahren gebe es über das staatliche Förder-Programm "Liven in Lettland" Geld für Sprachkurse oder traditionelle Musikgruppen. - Zu spät, findet Valts Ernstreits. Man habe es in den 1990er Jahren nach der staatlichen Unabhängigkeit verschlafen, das Livische zu retten: "Es ist ja schon tot. Ich sehe keine Chancen mehr." Man brauche eine sehr starke Motivation, um eine Sprache zu bewahren, meint er. "Aber nicht nur das. Man muss die Sprache auch benutzen. Und das ist das Hauptproblem: Wir haben einfach keine Muttersprachler mehr."

Das ist Zoja Silje anderer Ansicht. Sie glaubt, dass das Livische auf die eine oder andere Art überleben wird: "Es wurde schon vor 150 Jahren prophezeit, dass unsere Sprache aussterben wird. Und heute gibt es sie immer noch." - Wie sollten sonst auch zu Ostern die Vögel geweckt werden?