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Lex Americana gegen Völkerecht

22. Januar 2002

Der Konflikt zwischen den USA und der übrigen Welt ist vorprogrammiert. Ein Kommentar von Heinrich Bergstresser:

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Die Schutthalden des zerstörten World Trade Centers in Manhattan werden täglich kleiner, und die afghanische Übergangsregierung auf der Geberkonferenz in Tokio kann mit großzügigen Finanzzusagen für den Wiederaufbau Afghanistans nach Hause zurückkehren. Zur gleichen Zeit flackern ungewöhnliche Bilder aus Kuba über die Bildschirme in aller Welt. Rot gekleidete, mit Handschellen gefesselte und mit dunklen Schutzbrillen und Ohrenschützern versehene Personen in Drahtkäfigen und hinter Stacheldrahtverhauen, bewacht von martialisch aussehenden, bis an die Zähne bewaffneten Wächtern und Hunden.

Doch der Ort des Geschehens ist nicht das Kuba des Maximo-Leaders Fidel Castro, sondern der US-amerikanische Marinestützpunkt Guantanamo an der südwestlichen Küste der Insel. Dieser Stützpunkt, weit entfernt vom Festland, den die USA trotz der kubanischen Revolution retten konnte, wird - wenn es nach dem Willen der US-Regierung geht - für bis zu 2000 Taliban- und El Kaida-Kämpfer Endstation sein.

USA sieht Gefangene als Terroristen

Für die USA sind die Inhaftierten die gefährlichsten Terroristen, die nach wie vor die Sicherheit der USA und der zivilisierten Welt gefährden. Schon deshalb seien diese Wesen mit anderen Maßstäben zu behandeln als "normale" Kriegsgefangene, die unter dem Schutz der Genfer Konvention und damit dem Völkerrecht stehen. Applaus und eine Woge der Zustimmung sind Präsident George W. Bush und seine Falken im Pentagon und im Justizministerium sicher, wenn sie von illegalen Kombattanten sprechen, die sich durch ihre Untaten außerhalb der Weltgemeinschaft gestellt hätten und sich nun nicht auf Grundsätze des Völkerrechts berufen könnten.

UN verweist auf Genfer Konvention

UN-Hochkommissarin für Menschenrechte Mary Robinson, Amnesty International, das Internationale Rote Kreuz, ja selbst die EU sehen dies jedoch völlig anders. Ein Blick in die einschlägigen Paragraphen der Genfer Konvention gibt ihnen denn wohl auch Recht, was viel, wenn nicht sogar alles über die Grundhaltung der US-Regierung, ihr Rechtsverständnis und ihr Verhältnis zu den übrigen Mitgliedern der Weltgemeinschaft ausdrückt: Die Lex Americana gegen das Völkerrecht, die geistig politische Auseinandersetzung um Rechtsvorstellungen zwischen einem Land mit einer militärischen und politischen Ausnahmestellung und dem Rest der zivilisierten Welt.

Wut und Zorn der USA über das, was in den letzten Monaten geschehen ist, sind verständlich. Aber sie sind der denkbar schlechteste Ratgeber in der Politik. Die wahre Stärke einer Gesellschaft zeigt sich vielmehr in der konsequenten Anwendung rechtstaatlicher und demokratischer Prinzipien, die bislang in den USA durch das ausgeklügelte System der Checks und Balances aufrecht erhalten wurden. Doch genau dieses System ist durch die Terroranschläge ins Rutschen geraten. Denn bis auf ganz wenige Abweichler haben die Volksvertreter im Kongress sich, dem Land und dem Recht mit der Verabschiedung des "U.S.A.P.A.T.R.I.O.T"-Gesetzes einen Bärendienst erwiesen.

Gefahr für den Rechtsstaat

Es hat nicht nur auf Jahre hinaus die Machtstellung der Exekutive in Friedenszeiten auf bislang unvergleichbare Weise ausgeweitet, sondern hat die Voraussetzung für Sondergerichte geschaffen, die als Teil einer Parallel-Justiz jeglicher rechtstaatlicher Kontrolle entzogen sind. Unter diesen Vorzeichen droht der Rechtstaat auf der Strecke zu bleiben, was die Freiheitsrechte der US-Bürger zwar auf Dauer einschränkt, was aber der politischen Tradition der USA zutiefst widerspricht.

Die Kongress-Wahlen in diesem Jahr könnten diesen Trend umkehren. Doch deutet zurzeit nichts auf eine grundsätzliche Kurskorrektur hin. So sind Europa und die liberale Minderheit in den USA gefordert, den Taliban- und El Kaida-Komplex in Guatanamo aufzugreifen, um Rechtstaatlichkeit und Völkerrecht als die beiden Seiten einer Medaille ins weltöffentliche Bewusstsein einzupflanzen. Denn das Letzte, was die Welt jetzt bräuchte, wären die autoritär-diktatorischen Vereinigten Staaten von Amerika.