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"Jetzt Ressourcen nutzen"

15. Februar 2012

Ein Jahr nach dem Aufstand steht Libyen vor einer ungewissen Zukunft. Die Bedingungen für eine ökonomische und politische Entwicklung sind aber vorhanden, so Experte Andreas Dittmann.

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Andreas Dittmann von der Uni Gießen (Foto: Dittmann)
Libyen-Experte Andreas DittmannBild: Andreas Dittmann

Deutsche Welle: 40 Jahre haben die Libyer unter der Gewaltherrschaft von Gaddafi gelebt. Gibt es ein Jahr nach Beginn des Aufstandes positive Entwicklungen in Libyen?

Andreas Dittmann: Ja, die Entwicklungsvoraussetzungen für die Zukunft Libyens sind sogar ausgesprochen gut. Sie setzen sich im Wesentlichen aus drei Faktoren zusammen. Auf der einen Seite gibt es noch jede Menge Ressourcen, vor allem an Erdöl. Diese Erdölreserven werden noch mindestens für 65 bis vielleicht sogar 70 Jahre halten. Und zum anderen gibt es eine relativ geringe libysche Gesamtbevölkerung, aber sehr viele Ressourcen und Geld. Geld, das sich auf diversen Auslandskonten befindet. Und der dritte Faktor ist die Aufbruchstimmung, die jetzt im Land herrscht - vor allem bei den jungen Menschen, die ja mehr als 50 Prozent der Bevölkerung im Land ausmachen. Eine Aufbruchstimmung, die hinweisen könnte zu neuen Ufern, neuen Entwicklungen.

Kann man denn davon ausgehen, dass sich eine politische Klasse bildet, die diese wertvollen Ressourcen nicht nur im Rahmen einer Vetternwirtschaft für sich ausbeutet und verteilt, sondern tatsächlich auch zum Wohl des Landes einsetzt?

Ja, dazu werden ja jetzt die Wahlen vorbereitet, um dann die entsprechenden parlamentarischen Kontrollmechanismen genau dafür zu erreichen. Libyen hatte leider in der Vergangenheit zweimal die Erfahrung gemacht, dass sich jeweils die Herrschenden das Ölgeld in die Taschen der eigenen Klientel packen. Das war vorher die Königsfamilie, die nach der Unabhängigkeit Libyens von den Briten eingesetzt wurde. Und dann war es in den späten Jahren auch die Familie Gaddafi, aber erst in den späten Jahren. Ab 1969 hat Gaddafi durchaus sehr viel Landeseinnahmen in die Landesentwicklung gesteckt und auch sehr viel aufgebaut. Das ist vielen jungen Libyern heute gar nicht mehr so bekannt.

Gibt es möglicherweise noch Dinge, die Gaddafi früher versucht hat aufzubauen, die jetzt möglicherweise für den Wiederaufbau des Landes aktiviert werden könnten?

Rebellen in Bani Walid
Die Libyer haben lange für ihre Freiheit gekämpftBild: AP

Ja, also rein theoretisch wären die ehemals basisdemokratischen Ansätze im Gaddafi-Regime ein Ansatzpunkt. Diese sahen vor, dass alle Entscheidungen größerer Tragweite gemeinsam getroffen werden. Wie das funktioniert, hat Gaddafi in der von ihm entwickelten Theorie dargelegt - in der so genannten DUT, der dritten Universaltheorie -, die einen dritten Weg darstellen sollte zwischen der kapitalistischen Wirtschaftsausrichtung auf der einen und der sozialistischen Wirtschaftsausrichtung auf der anderen Seite. Aber auch wenn die Idee grundsätzlich demokratischer ist, so ist sie erstens in den letzten Gaddafi-Jahren ganz in den Hintergrund gedrängt worden und es wurde de facto keine Entscheidung getroffen, die nicht Gaddafis Entscheidung war. Aber grundsätzlich würde im Moment jeder Rückgriff auf Strukturen eher negativ gewertet werden und als "Gaddafi ist wieder da!" interpretiert werden.

Es wurde immer wieder über die Einführung der Scharia berichtet. Wie sieht es mit dem Einfluss religiöser Gruppen aus?

Das ist ganz schwierig zu beantworten. Im Gegensatz zu Ägypten hatte man überhaupt keine Vorstellung darüber, wie stark die islamischen oder die islamistischen Gruppen unter Gaddafi waren. Sie waren im Gegensatz zu Ägypten immer verboten und sie waren auch immer eine Bedrohung für die Macht Gaddafis. Man kann also nicht wie in Ägypten auf Erfahrung mit den Moslembrüdern zurückgreifen. In Libyen liegt tatsächlich überhaupt keine Erhebung vor. Die entsprechenden Gruppen, die sich islamistisch äußerten, mussten unter Gadaffi entweder das Land verlassen, wurden inhaftiert und gar umgebracht.

Viele Vertreter der Eliten sind ins Ausland gegangen oder sind möglicherweise dort zu Vertretern der Elite geworden. Gibt es denn unter ihnen auch Menschen, die jetzt in dieser Phase des Umbruchs wieder nach Libyen zurückkehren und auch unter schwierigen Bedingungen bereit sind, das Land neu aufzubauen und die Annehmlichkeiten des Exils aufzugeben?

Das wäre genau das, was es jetzt braucht. Aber ich fürchte, dass hier der Exil-Afghanistan-Effekt eintreten wird, der darin bestand, dass nach der Niederschlagung des Taliban-Regimes in Afghanistan viele Exil-Afghanen ganz schnell wieder nach Hause gefahren sind und das Land aufbauen wollten. Sie haben gesehen, wie furchtbar es immer noch in Afghanistan ist und sind sofort wieder zurückgekehrt. Und genau die Gefahr, die Sie ansprachen mit den Annehmlichkeiten des Exils im Vergleich zur harten libyschen Realität, könnte viele davon abhalten, jetzt als ehemalige Exilanten wieder zurückzukehren. Dennoch gibt es einige wichtige Persönlichkeiten, grade aus den verschiedenen Oppositionsgruppen. Aber wie sehr diese dann heimat-patriotische Gefühle über persönliches Wohlergehen stellen werden, das bleibt abzuwarten.

Können Sie sich vorstellen, dass es möglich ist, über das Schulsystem eine neue Art des Denkens aufzubauen und 40 Jahre Diktatur hinter sich zu lassen?

Genau das ist der Punkt. Also, wichtiger als Wirtschaftsprogramme, Militärbündnisse oder Erdölexportabkommen ist eine grundlegende Reform des libyschen Bildungssystems. Das fängt mit der Grundschule an, geht über die weiteren Schulen bis zu den Universitäten. Das ist eine der insgesamt sechs Hauptaufgaben, die es jetzt gibt. Die erste ist die Durchführung der Wahlen. Das Zweite ist, dass die Polizei gestärkt werden muss, so dass nicht Milizen, sondern staatliche Organe für Ruhe und Ordnung sorgen. Drittens bräuchte es ein Entwaffnungsprogramm und dann würde ich an vierter Stelle auf jeden Fall den Ausbau des Bildungssystems sehen. Die Aufgaben fünf und sechs sind eine Ausnutzung der jetzigen Gunstlage - viel Geld, wenig Bevölkerung. In 50 bis 60 Jahren gibt es in Libyen ein Energieproblem. Da muss man jetzt Geld und Zeit nutzen, um sich in den nächsten fünf Jahrzehnten entweder auf erneuerbare Energien oder auf Atomenergie zu konzentrieren, denn dann ist das Öl zu Ende.

Was kann Europa tun, um das Land beim Wiederaufbau zu unterstützen?

Im Gegensatz zu anderen Wiederaufbauprogrammen ist Libyen kein Land, das jetzt europäisches oder deutsches Geld braucht, sondern hier geht es um Know-How-Transfer. Es geht darum, vor Ort Vertrauen zu schaffen und um eine vernünftige Beratung bei der Realisierung der eben skizzierten Wege. Dabei müsste Deutschland sich mehr dafür einsetzen, dass Europa mit einer Stimme in Libyen spricht. Militärisch hat man einigermaßen gemeinsam gehandelt, auch wenn manche mehr mitgemacht haben als andere. Aber politisch kann es verschiedener gar nicht sein. Da sind immer wieder Europäer, die hier jeweils ihre eigenen Geschäftsinteressen verfolgen und nicht mit einer gemeinsamen europäischen Stimme reden. Das wäre jetzt ganz wichtig. Die Libyer sind natürlich überfordert darin, zu entscheiden, welche der vielen Berater, die jetzt ins Land kommen, diejenigen sind, die wirklich langfristig Gutes für das Land bewirken - und wer von ihnen nur Geschäfte im Sinn hat.

Andreas Dittmann ist Professor für Anthropogeographie am Institut für Geographie der Universität Gießen.

Das Interview führte Lewis Gropp.

Redaktion: Diana Hodali