1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Lieber den Spatz in der Hand ...

Rolf Wenkel10. Januar 2003

Bei den Tarifverhandlungen für Deutschlands öffentlichen Dienst ist ein Kompromiss gefunden worden: Ein Stufenplan zur Tarifanhebung mit 27 Monaten Laufzeit. Rolf Wenkel kommentiert.

https://p.dw.com/p/37Pk

Ach ja, das waren noch Zeiten, als ein zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern ausgehandelter Tarifvertrag in Deutschland noch für zwölf Monate galt und mit einer klaren Prozentzahl beziffert werden konnte, um die die Löhne und Gehälter steigen. Doch die Wirklichkeit ist immer komplizierter geworden, auch in der Tarifpolitik. Um einen lähmenden Streik im Öffentlichen Dienst zu vermeiden, haben die Tarifpartner ein Modell entwickelt, für dessen Beurteilung ein Rechenschieber oder Taschenrechner schon längst nicht mehr ausreicht: Laptops mit Statistik-, Kalkuations- und Zinseszinsprogrammen sind nötig, um herauszufinden, ob, und wenn ja, wer wen über den Tisch gezogen hat.

Doch die komplizierten und stark ausdifferenzierten Abschlüsse der Neuzeit haben Methode. Sie erschweren nicht nur die Ermittlung einer glatten Prozentzahl, sondern sie erlauben es auch beiden Seiten, ihr erzieltes Ergebnis schönzurechnen, um es der eigenen Klientel besser verkaufen zu können - obwohl doch beide Seiten eigentlich von der gleichen Sache sprechen. Auf eine einfache Formel gebracht, betragen die Lohnerhöhungen in diesem Jahr gut zwei und im nächsten Jahr knapp zwei Prozent, was es unter anderem verdi-Chef Frank Bsirske erlauben wird, von einem Abschluss von deutlich über drei Prozent zu sprechen - also genau das, was er für die Besitzer von Arbeitsplätzen, die er vertritt, haben wollte.

Das war nicht einfach. Denn noch nie ist der deutschen Bevölkerung so deutlich kommuniziert worden wie im vergangenen Herbst, dass die öffentlichen Kassen leer sind: Wären Städte und Gemeinden privatrechtliche Unternehmen, würden einige von ihnen den Straftatbestand der Konkursverschleppung erfüllen. Die Haushalte der meisten Bundesländer sind verfassungswidrig, weil ihre Schuldenaufnahme längst die Summe der öffentlichen Investitionen überschreitet, und die Europäische Union hat bekanntlich ein Defizitverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland eröffnet.

Noch nie ist den öffentlichen Arbeitgebern eine so überzeugende Darstellung gelungen, dass man aus leeren Taschen nichts herausholen kann. Doch ver.di hat mit Recht darauf verwiesen, dass ihre Klientel nicht für die Fehler in der Steuer- und Finanzpolitik haftbar gemacht werden kann. Die Regelungen zur Körperschaftssteuer, einer wichtigen Einnahmequelle für Kommunen, sind so geändert worden, dass die Finanzämter im vergangenen Jahr rund drei Milliarden Euro an die Unternehmen zurückzahlen mussten anstatt wie in früheren Jahren rund 23,5 Milliarden Euro einzunehmen. Hat diese massive Steuerentlastung zu einem Konjunkturaufschwung und zu neuen Arbeitsplätzen geführt? Offensichtlich nicht, sie hat nur die Städte und Gemeinden an den Bettelstab gebracht.

Erst massive Warnstreiks brachten die Arbeitgeber der öffentlichen Hand zu der Einsicht, dass sie ihre Bediensteten nicht von der allgemeinen Entwicklung der Einkommen abkoppeln können. Allerdings hat ver.di für diesen Abschluss ebenfalls kräftig Federn lassen müssen. Ihre Klientel wird im ersten Jahr mit 2,4 Prozent abgespeist, höhere Lohngruppen bekommen diese Erhöhung sogar erst ab April. Der nächst Tarifstreit findet erst gar nicht statt - selbst wenn sich die Konjunktur schlagartig verbessern sollte, bekommen die Beschäftigten im öffentlichen Dienst im nächsten Jahr ab Januar nur ein Prozent und ab Mai ein weiteres Prozent mehr - das ist ziemlich dürftig. Zudem müssen die Beschäftigten auf einen vor zehn Jahren hart erstrittenen arbeitsfreien Tag verzichten - und sie müssen zwei Wochen länger auf ihre Gehaltsüberweisung warten, was den öffentlichen Kassen millionenschwere Zinsersparnisse bringt.

Man sieht: Beide Seiten haben Federn lassen müssen. Ver.di hat aus den angeblich leeren öffentlichen Kassen noch etwas heraus gequetscht, freilich mit erheblichen Zugeständnissen. Aber der Zweck heiligt die Mittel, und der Zweck war, einen Streik zu vermeiden und für zwei Jahre Ruhe an der Tariffront zu haben. Das ist, was zählt, damit kann jeder leben, und dafür haben sich die Anstrengungen der letzten Tage auch gelohnt.