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"Russlands Gesellschaft kann explodieren"

Irina Chevtaeva (mo)18. Mai 2016

In Russland gibt es heftige soziale und innenpolitische Konflikte. Das Leben der Menschen ist schlecht, sagt die russische Schriftstellerin Ljudmila Ulizkaja im DW-Interview. Doch wie viel Freiheit wünschen sie sich?

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Portrait von Ljudmila Ulizkaja (Foto: picture-alliance/dpa/Itar-Tass/G. Sysoyev)
Bild: picture-alliance/dpa/Itar-Tass/G. Sysoyev

Deutsche Welle: Frau Ulizkaja, in welchem Zustand ist die russische "Intelligenzija" heute?

Ljudmila Ulizkaja: Das, was wir früher Intelligenzija genannt haben, gibt es heute nicht mehr. Die gebildeten Menschen teilen sich in sehr unterschiedliche Gruppen auf. Ein Teil der Intellektuellen verlässt das Land, der andere versucht, sich anzupassen. Aber die allgemeine depressive Stimmung betrifft gebildete und weniger gebildete Schichten gleichermaßen. Ich denke, dass das "heilige" Verhältnis von 86 zu 14 Prozent, also das zwischen denen, die die Staatsmacht unterstützen, und denen, die mit ihr unzufrieden sind, nicht ganz der Realität entspricht. Unter den Menschen, mit denen ich spreche, sehe ich dieses Verhältnis nicht. Ich halte diese Zahlen für einen Mythos.

Ist die Staatsmacht wie das Wetter: Man muss sich ihr ein wenig anpassen, damit einem nichts passiert?

Was mich betrifft, so halte ich großen Abstand zur Staatsmacht. Deswegen bin ich ein völlig unabhängiger Mensch. Bislang gelingt mir dies, aber was morgen sein wird, weiß ich nicht. Ich werde versuchen, in Russland durchzuhalten, weil Russland der Schwerpunkt meiner Interessen ist. Einen Teil meiner Zeit verbringe ich im Ausland, gerade jetzt bin ich in Italien, den anderen Teil in Russland, wohin ich Anfang Juni zu einer Theaterpremiere zurückkehren werde. Ich hänge an meinem Land, das ist einfach so.

Finden Sie Russland interessant?

Wahnsinnig interessant! Ich denke, dass es heute eines der interessantesten Länder ist. Es ist sehr dramatisch, es gibt heftige soziale und innenpolitische Konflikte. Wirklich bitter ist, dass die Menschen ein so schlechtes Leben haben. Eines Tages wird man diesen Abschnitt der Geschichte erforschen und sich über die inneren Widersprüche und das schwierige Verhältnis zwischen der Gesellschaft und dem Staat wundern. Es ist wirklich sehr schwierig, aber für Russland ist das nichts Neues.

Ende April haben Aktivisten der Kreml-treuen "Nationalen Befreiungsbewegung" (NOD) die Preisverleihung eines Geschichtswettbewerbs für Schüler gestürmt, der von der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial veranstaltet wurde. Die NOD-Anhänger griffen dabei auch Sie an.

Zu der Veranstaltung waren Schüler gekommen, die wunderbare Aufsätze über die Geschichte ihrer Familie, ihres Dorfes und ihrer Schule geschrieben haben. Viele von ihnen waren zum ersten Mal in der Hauptstadt. Sie waren die Gewinner eines Geschichtswettbewerbs. Das war ein Tag, der jedem von ihnen für immer in Erinnerung bleiben sollte. Und plötzlich wartet auf sie in der Nähe des "Hauses des Kinos" eine Gruppe von Hooligans, die Schimpfwörter schreien und mit Eiern werfen. Das ist abscheulich. Ich kann mir grüne Farbe vom Gesicht leicht wieder abwaschen und einfach weiterleben. Aber die Täter, diese armen, unglücklichen und manipulierten Idioten, sind für mich keine Gegner. Auch sie tun mir leid, weil auch sie unsere Kinder sind. Ein Teil dieser Generation ist auf einem schrecklichen Weg. Es tut unglaublich weh, dies mit anzusehen.

Es gelingt kaum, dies aufzuhalten...

Es gelingt überhaupt nicht. Am Tag nach dem Vorfall hieß es aus dem Kreml, er habe nichts damit zu tun. Aber all diese Jungs werden unterstützt und finanziert. Irgendjemand hat für sie Feldblusen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs bestellt. Es gibt Kräfte, die sie füttern, und ich vermute, dass dies Leute des Kremls tun. Die Ermittlungen sind nicht mein Problem. Ich kann nur sagen, dass die Polizei völlig teilnahmslos war, bis die Hooligans begannen, mit Farbe zu werfen. Es wäre gut herauszufinden, wer das alles finanziert. Aber ich fürchte, dass sich keine Behörde findet, die dem nachgehen wird.

Ein russischer Soldat in Kertsch auf der Krim (Foto: REUTERS/Thomas Peter)
Die Krim wurde im Frühjahr 2014 von Russland annektiertBild: Reuters

Sie haben mal gesagt, die russische Staatsmacht sei "idiotisch und listig" zugleich. Was denken Sie heute darüber?

Vieles wird mit unglaublicher List und Erfolg gemacht. Zum Beispiel wurde die Annexion der Krim absolut genial durchgeführt, ohne einen Tropfen Blut. Aber dadurch wird diese Tatsache nicht weniger idiotisch, weil die Folgen der Besetzung der Krim für mehrere Generationen unseren beiden Völkern das Leben verderben werden. Ich denke, dass wir es hier gleichzeitig sowohl mit großer List als auch mit großer Idiotie zu tun haben.

"Freiheit ist eine sehr schwierige Sache, man muss sie lernen wollen", haben Sie geschrieben. Was meinen Sie damit?

Unsere Gesellschaft selbst trägt nicht den Wunsch nach Freiheit in sich, und solange dieser Wunsch im Inneren nicht aufkommt, kann von außen nichts unternommen werden. Wenn das Volk mit dem gegenwärtigen Stand der Dinge und mit der Verschlechterung des Lebensstandards zufrieden ist, und bereit ist, den Gürtel immer enger zu schnallen: Womit kann man dann noch helfen? Offenbar wird diese Situation leider irgendwann einen kritischen Punkt erreichen. Dann kann es zu einer Massenexplosion kommen. Das würde ich sehr gerne vermeiden. Aber das kann in der heutigen Situation niemand ausschließen.

Ljudmila Ulizkaja ist eine russische Autorin und Publizistin. Ihr erster Erzählband wurde 1983 im Staatlichen Kinderbuchverlag veröffentlicht. Mit der Veröffentlichung von "Sonetschka" (1992) wurde sie als Prosaautorin entdeckt. Im selben Jahr erschien ihre erste Erzählung in Deutschland. Ihre Bücher wurden in 17 Sprachen übersetzt.

Das Gespräch führte Irina Chevtaeva.