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Lokalpolitik in Belarus: "Das Wichtigste ist, keine Angst zu haben"

21. September 2006

Die weißrussische Oppositionelle Olga Karatsch ist mit 28 Jahren die jüngste Abgeordnete im Stadtparlament von Witebsk. Bei einem Besuch in Berlin berichtete sie vom schwierigen politischen Engagement in Belarus.

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Die EU und BelarusBild: AFP

Nur vier Tage Zeit hat sie für Berlin. Ihr Kalender ist prall gefüllt: ein Termin jagt den nächsten. Ein Treffen mit Mitarbeitern vom Deutschen Mieterbund ist genauso wichtig wie ein Gespräch mit dem ehemaligen Leiter der OSZE-Mission in Weißrussland. Stellt sich die 28-Jährige Weißrussin mit ihrer festen und tiefen Stimme irgendwo vor, rückt sie sofort in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Es klingt fast unglaublich, dass die ehemalige Aktivistin der oppositionellen Jugendbewegung "Subr", die mehrmals verhaftet worden war, seit drei Jahren ganz legal im Stadtparlament von Witebsk arbeitet.

Zwei verschiedene Planeten

Wie viel Kraft es sie kostet, wie viel Druck weißrussische Machtinhaber auf sie und ihr Team regelmäßig ausüben, dass sie ständig beobachtet wird, davon kann Olga Karatsch ein Lied singen. Das sei aber nicht der Grund Ihres Besuches, erklärt sie: "Für mich ist es wichtig, dass ich hier mit Vertretern des Bundestages und verschiedener Nicht-Regierungsorganisationen über die heutige Lage in Weißrussland sprechen kann. Wenn man von hier aus nach Weißrussland blickt und versucht, das Land zu verstehen, kann ein Bild entstehen, das nicht unbedingt der Realität entspricht. Es ist dann wie auf zwei verschiedene Planeten. Außerdem finde ich, dass es für Europäer wichtig ist, Informationen aus verschiedener Orten Weißrusslands zu erhalten, eben nicht nur aus Minsk."

Ratlosigkeit in Europa

Wie ist die Stimmung in der Provinz? Was hat die Opposition jetzt vor? Und wie kann Europa helfen? Das sind nur wenige Fragen, mit denen Olga Karatsch in Berlin überschüttet wird. Björn Kunter, Geschäftsführer des "Bundes für Soziale Verteidigung", der selbst einige Monate in Weißrussland gelebt aht, hilft Olga, Kontakte in Deutschland zu knüpfen. Er meint, dass die europäischen Politiker nicht wissen, wie sie die innenpolitische Lage in Weißrussland einschätzen sollen, nachdem die so genannte Jeans-Revolution im März dieses Jahres scheiterte und Lukaschenko an der Macht blieb. Kunter sagte der Deutschen Welle: "Vor den Präsidentenwahlen in Weißrussland haben alle in Europa darauf gehofft, dass die Revolution kommt und alles gut sein wird. Jetzt aber, und das habe ich aus vielen Gesprächen erfahren, versuchen sich europäische Politiker auf eine aus heutiger Sicht eher utopische Situation einzustellen, wenn es Lukaschenko nicht mehr geben wird. Einerseits ist dies nicht schlecht. Aber andererseits: Was sollen wir in der Zwischenzeit machen? Also, die Europäer haben jetzt eine gewisse Depression, was die Beziehung zu Weißrussland angeht, weil man einfach nicht weiß, was man jetzt tun soll."

Keine rasche Wende in Belarus

Es sei ein Fehler, eine rasche Wende in Weißrussland zu erwarten, meint die Stadtabgeordnete. Menschen in Olgas Heimat haben Demokratie nie gelebt und wissen davon nur vom Hörensagen. Wie kann man einem Blinden erklären, was rot bedeutet? Wie kann man einem Weißrussen erklären, dass Lukaschenko das Land in den Ruin steuert, wenn fast alle Medien unter staatlicher Kontrolle sind und darüber berichten, dass zum Beispiel Rentner in Weißrussland die glücklichsten Menschen sind, weil sie ihre Rente immer pünktlich kriegen? Olga Karatsch erklärt: "Die Europäer warten darauf, aus Weißrussland ganz bestimmte Signale zu hören: zum Beispiel von hunderttausenden Demonstrierenden in Minsk, wie es in der Ukraine der Fall war. Eine Äußerung eines gesellschaftlichen Protestes ist für jeden normalen Bürger der EU selbstverständlich, nicht aber für einen Bürger aus Weißrussland, der politisch noch ziemlich unerfahren ist. Wie kann man das alles erklären, wenn eine Oma bei uns oft zwischen Stadtrat und Stadtverwaltung nicht unterscheiden kann?"

Demokratie von unten

Antworten auf diese Fragen hat selbst Olga Karatsch nicht parat. Ihr Plan ist es, auf private Initiativen überall in Weißrussland, auch in den kleinsten Dörfern oder vergessenen Städten zu setzen und Demokratie nicht von oben aufzusetzen, sondern von unten zu entwickeln. Auf der Web-Seite von Karatschs NGO "Unser Haus" versucht die junge Abgeordnete, Menschen in Witebsk aufzumuntern, für ihre Rechte zu kämpfen. Sie bringt ihnen bei, wie man Ängste vor Beamten überwindet und lernt, sich zu beschweren. Das große Werk beginnt mit den kleinen Schritten, so Karatsch, und nur so könnten Menschen verstehen, dass Rechte keine abstrakten Begriffe seien: "Europäische Programme für den Aufbau der Zivilgesellschaft in Weißrussland sollten an einfache Menschen gerichtet sein, die dort in der absoluten Mehrheit sind. Man sollte solche Programme schaffen, die helfen, einfache Menschen in politische und öffentliche Prozesse einzubeziehen. Dabei muss es sich nicht um oppositionelle Tätigkeit handeln. Menschen in Weißrussland sollen einfach anfangen, selbst etwas zu unternehmen, über ihre Probleme und deren Lösungen offen zu diskutieren."

Das Wichtigste, fügt Olga Karatsch hinzu, sei es, keine Angst vor Beamten zu haben. Auch dann nicht, wenn dieser Beamte der Präsident ist.

Oxana Evdokimova
DW-RADIO/Russisch, 18.9.2006, Fokus Ost-Südost