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"Man braucht Mut, um in Russland Menschenrechte zu verteidigen"

22. Oktober 2009

Die russische Menschenrechtsorganisation Memorial erhält den diesjährigen Sacharow-Preis für Meinungsfreiheit des Europaparlaments. Die DW sprach mit der Moskauer Aktivistin Ljudmila Aleksejewa.

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Leiterin der Moskauer Helsinki-Gruppe, Ljudmila AleksejewaBild: picture-alliance/ dpa

Deutsche Welle: Frau Aleksejewa, Sie haben gemeinsam mit den Aktivisten und Kreml-Kritikern Sergej Kowaljow und Oleg Orlow den Sacharow-Preis des Europaparlaments stellvertretend für die Menschenrechtsorganisation Memorial

zugesprochen bekommen. Was bedeutet der Preis für Sie persönlich?

Screenshot der Internetseite von Memorial
Memorial wurde 1988 auf Initiative von Andrej Sacharow in Russland gegründetBild: www.memo.ru

Ljudmila Aleksejewa: Der Sacharow-Preis ist mir sehr wichtig, weil Andrej Sacharow einer unserer großen Landsmänner war. Zudem ist es ein Preis des Europäischen Parlaments, das die allgemeinen menschlichen Werte verteidigt, was mir viel bedeutet. Die Menschenrechtsorganisation Memorial hat mit der Moskauer Helsinki-Gruppe immer sehr gut und eng zusammenarbeitet.

Der Präsident des Europäischen Parlaments, Jerzy Buzek, sagte, nur mutige Menschen suchen in Russland nach Wahrheit. Muss man in Russland mutig sein, wenn man nach Wahrheit sucht?

Natürlich. Anna Politkowskaja, die nach Wahrheit suchte, lebt nicht mehr, und nicht nur sie. In jüngster Zeit haben wir viele Mitstreiter verloren – Stanislaw Markelow, Natalja Estemirowa, allesamt unsere Freunde und Gleichgesinnte, die uns sehr nahe standen. Sie alle haben viel getan. Man braucht tatsächlich Mut und gewaltige Geduld, wenn man Menschenrechte verteidigt, denn wir haben mehr Niederlagen als Siege zu verzeichnen. Die Menschenrechte werden mit jedem Jahr weiter beschnitten. Es werden immer mehr Gesetzesänderungen und neue Gesetze verabschiedet, die den Menschen die Rechte nehmen, die von der Verfassung eigentlich garantiert werden oder diese zur Fiktion machen. Vor allem in der Praxis werden Gesetze und damit unsere Rechte verletzt, so beispielsweise das Gesetz über Versammlungen und Demonstrationen, was eigentlich zur Demokratie dazugehört. Aber wir haben praktisch das Recht auf friedliche Demonstrationen und Meetings verloren. Die Behörden verbieten sie und jagen diejenigen gewaltsam auseinander, die das Verbot ignorieren. Das läuft eigentlich dem Gesetz zuwider.

Was gibt Ihnen Kraft, nicht zu verzweifeln?

Wissen Sie, wahrscheinlich ist das mein natürlicher Optimismus. Ehrlich gesagt, bin ich oft verärgert und empört. Mir persönlich fällt es nicht so schwer, das zu ertragen im Vergleich zu den jungen Menschen, die sich unserer Bewegung angeschlossen haben. Denn in der Sowjetzeit hatten wir überhaupt keine Hoffnung. Als wir damals von Menschenrechten sprachen, wussten wir, dass wir sie nicht besaßen und sie auch nicht bekommen würden, weil es schien, als würde die Sowjetunion noch ewig existieren. Aber unerwartet brachte mir das Schicksal das Geschenk: Ich durfte erleben, dass wir doch eine demokratische Verfassung bekommen haben, dass wir eine juristische Grundlage haben, die Einhaltung unserer Rechte einzufordern. Manchmal gelingt dies ja auch. Wenn man Menschen sieht, denen man geholfen hat, ihre Rechte zu verteidigen, dann ist das eine große Freude, auch wenn dies nicht so oft vorkommt. Diese Freude gleicht dann die Niederlagen aus.

Autor: Andreas Brenner / Markian Ostaptschuk
Redaktion: Birgit Görtz