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Politik

Marx, die Moderne und die Identitären

5. Mai 2018

Im "Kommunistischen Manifest" haben Karl Marx und Friedrich Engels die Entwicklung der globalen Moderne und ihre kulturellen Folgen präzise vorausgesagt. Auch für die Fundamentalisten weltweit haben sie ein Wort übrig.

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Deutschland Karl Marx Figuren
Der Philosoph im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit: Karl-Marx-Büsten in TrierBild: picture-alliance/dpa/T. Frey

Wann genau er auf die weltgeschichtliche Bühne trat, lässt sich nicht so genau sagen. Fest steht nur: Irgendwann war er da und legte sofort los: der Bourgeois. Kaum hatte er den ganzen "mittelalterlichen Schutt" - Adelsvorrechte, Lokalprivilegien Zunftmonopole und Provinzialverfassungen - entsorgt, zog er in weltweitem Maßstab eine ganz neue, die bürgerliche Ordnung auf, die schon damals keinerlei Grenzen mehr kannte.

  • "Die große Industrie hat den Weltmarkt hergestellt, den die Entdeckung Amerikas vorbereitete. Der Weltmarkt hat dem Handel, der Schifffahrt, den Landkommunikationen eine unermessliche Entwicklung gegeben. Diese hat wieder auf die Ausdehnung der Industrie zurückgewirkt, und in demselben Maße, worin Industrie, Handel, Schifffahrt, Eisenbahnen sich ausdehnten, in demselben Maße entwickelte sich die Bourgeoisie, vermehrte sie ihre Kapitalien, drängte sie alle vom Mittelalter her überlieferten Klassen in den Hintergrund."

Theoretiker der Globalisierung

So beschreiben Karl Marx und Friedrich Engels in ihrer wohl berühmtesten Schrift, dem "Kommunistischen Manifest", die Dynamik, mit der die neue Klasse, die Bourgeoisie, auf die weltgeschichtliche Bühne trat. Erschienen im Revolutionsjahr 1848, erstaunt das "Manifest" bis heute durch den Scharfsinn, mit dem die beiden Autoren die aufziehende Globalisierung beschreiben. Eine technische Globalisierung, die von Anfang an aber auch eine kulturelle ist, die Gesellschaften weltweit vom Kopf auf die Füße stellt.

Am Anfang dieser Verwandlung steht die technische Revolution. Einige Jahrzehnte zuvor ist die Dampfmaschine erfunden worden, die bald auch Lokomotiven und Dampfschiffe antreibt. Schienen durchziehen nun die Landschaft, die Fahrpläne der großen Schifffahrtsgesellschaften lassen die Uhren weltweit im gleichen Takt ticken. Zeit, weiß man fortan, ist vor allem Geld.

Eroeffnung des Suezkanals
Globale Handelsroute: Eröffnung des Suez-Kanals 1869Bild: picture-alliance/akg-images

Kurz nachdem Marx und Engels das "Manifest" veröffentlicht haben, geht mit dem 1869 eröffneten Suezkanal eine der bis heute bedeutendsten Handel- und Verkehrsrouten in Betrieb. Noch einmal 40 Jahre später, 1914, fahren Schiffe auf dem Panama-Kanal mitten durch den amerikanischen Doppelkontinent.

Verblüffende Geistesgegenwart

In aller Schärfe sehen die Autoren des "Manifests" nicht nur die ökonomischen, sondern auch die kulturellen und psychologischen Veränderungen, die die neue Wirtschaftsform mit sich bringt.

  • "Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose 'bare Zahlung'."

Die "bare Zahlung" bedeutet vor allem eines: Geschäfte und Abschlüsse lassen sich auf den Cent genau berechnen, das Geld erlaubt und zwingt zugleich dazu, die eigene Arbeit möglichst effektiv auf den Markt zu bringen. Wie kaum eine andere Erfindung hat die Barzahlung das Leben der Menschen verändert. 

  • "Sie hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt. Sie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten die eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt. Sie hat, mit einem Wort, an die Stelle der mit religiösen und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung die offene, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung gesetzt."

"Mit nüchternen Augen"

Die Illusionen sind dahin. Umso schärfer tritt die Fratze des - sozialstaatlich kaum gebändigten - Marktes hervor, der kalte, nackte Wettbewerb. "Gott ist tot", wird der Philosoph Friedrich Nietzsche rund 35 Jahre später in seiner "Fröhlichen Wissenschaft" schreiben, und ohne ihn, ohne Gott, ist alle Transzendenz dahin.

Kinderarbeit in Goldminen in Burkina Faso
"Die offene, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung": Goldmine in Burkina Faso Bild: DW

Die einzige relevante, einzig evidente Kraft ist das Geld. Alles andere, so kann man Marx verstehen, sind Illusionen.

  • "Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen."

Die Welt als Marktplatz

Das Heilige, deuten Marx und Engels im weiteren Verlauf des Textes an, ist überall entweiht. Nicht nur in den westlichen Zentren des Kapitalismus ist es in die Knie gegangen, sondern schlicht überall. Kapitalfreie Räume gibt es nicht mehr, und damit auch keinen Ort, an dem sich noch ungestört träumen ließe, an dem der Mensch die Frömmigkeit früherer Zeiten pflegen darf. Weltweit ist es vorbei mit der Gemütlichkeit.

  • "Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterte Kommunikation alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation. Die wohlfeilen Preise ihrer Waren sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schießt, mit der sie den hartnäckigsten Fremdenhass der Barbaren zur Kapitulation zwingt. Sie zwingt alle Nationen, die Produktionsweise der Bourgeoisie sich anzueignen, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen; sie zwingt sie, die sogenannte Zivilisation bei sich selbst einzuführen, d.h. Bourgeois zu werden. Mit einem Wort, sie schafft sich eine Welt nach ihrem eigenen Bilde."

Mit gerade zu unheimlicher Präzision beschreiben Marx und Engels die Verwandlung der Welt in einen Markt, einen riesigen Handelsplatz, von dem alles Romantisch-Schöngeistige verbannt ist. Dem Geist des Geldes haben sich alle Menschen zu fügen, ganz gleich wo sie leben. Vielleicht bleiben sie eine Weile noch verschont, aber auf eine allzu lange Gnadenfrist soll man nicht hoffen: Sie währt maximal ein paar Jahrzehnte.

Berlin Demonstration Identitäre Bewegung
Traum von der Vormoderne: "Identitäre" demonstrieren in Berlin, Juni 2017 Bild: picture-alliance/dpa/A. Vitvitsky/Sputnik

Angriff auf die Seele

So mag die Romantik zwar aus der Welt sein. Die Sehnsucht nach ihr aber bleibt. Und zwar bis in unsere Tage. Überall besteht er fort, der Traum von der unschuldigen Existenz, dem gottgefälligen Leben. Weil er sich aber nicht mehr umsetzen lässt, entstehen fundamentalistische Bewegungen, die sich der Kraft des Marktes nach Kräften widersetzen.

Islamismus im nahen Osten, Hindu-Nationalismus in Indien, die White-Supremacy-Bewegung in den USA oder die Identitäre Bewegung in Europa: Fast überall in der Welt bilden sich Bewegungen, die sich der neuen Zeit entgegenstellen, sie aufzuhalten versuchen. Doch die - auf eine krude, menschenverachtende Art - romantischen Programme, die Anti-Modernisten weltweit anbieten, bleiben, was sie von Anfang an gewesen sind: ein Versuch, der neuen Realität zu entkommen.

Es war absehbar: Der Fluchtversuch würde scheitern. Die Menschen können den Kapitalisten nicht entkommen. Ja mehr noch: Sie werden selbst zu Kapitalisten. Der ökonomische Druck zwingt zur Rationalität, und so verwandeln sich die "Barbaren", wie Marx und Engels sie wenig freundlich nennen, ihrerseits in Mitglieder der Bourgeois - Zwangsmitglieder vielleicht, aber trotzdem Mitglieder. Der Kapitalismus hat die Seelen erobert. Was bleibt, so kann man das "Kommunistische Manifest" der beiden Jahrhundertdenker Marx und Engels verstehen, sind gewalttätige Eruptionen, verantwortet von Menschen, die glauben, das einstweilen Unabänderliche, die Macht des Marktes, hinwegbomben zu können. Doch die Bomben explodieren vergeblich: Ideen lassen sich mit Waffen schlecht bekämpfen.

Was ist Kapitalismus?

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika